Von einem Ort zum anderen. Über die Arbeit von Reto Boller
Daniel Kuriaković
Aus dem Katalog «Reto Boller», Cahier d’artistes
Der Bezug auf eine Tradition, auf eine Praxis mit ihren Handlungsweisen oder auf eine Methode mit ihren Konzepten ist dann fruchtbar, wenn damit eine Umdeutung der jeweiligen Inhalte, Strategien und Denkmuster einhergeht. Da diese Umdeutungen nur in den seltensten Fällen radikaler Natur sind, ist eine gelassene Wahrnehmung und Aufmerksamkeit gegenüber den Verschiebungen - im Unterschied etwa zu Brüchen -vonnöten. Die Arbeit von Reto Boller gehört zum komplexeren Fall der Verschiebungen.Seine Kunst bedient das Denken in Paradigmen nur auf einer zweiten Ebene und lässt ein starres Gegensatzdenken von Moderne vs. Postmoderne oder Skulptur vs. Malerei hinter sich.
Der Einsatz von Reto Bollers Arbeit kristallisiert sich klar heraus, beschreibt man die Wahrnehmungserfahrungen, ob man nun vom Pol der eher zwei- oder dreidimensionalen Arbeiten ausgeht. Und um den Rahmen der Diskussion gleich noch leicht zu öffnen: Man kann die Argumentation auch jenseits der räumlichen Präsenz der Werke beginnen lassen, jenseits ihrer visuellen Positivität (des Charakteristikums der Werke als Erscheinungen im Blickfeld der Betrachter). Dieser andere Bereich wird natürlich von den Titeln ausgesteckt, die in der Hierarchie der Werkkomponenten konventionellerweise zuunterst rangieren. Im vorliegenden Fall legen sie sogar das Zeugnis einer ausgesprochenen Negativität ab, da sie banalerweise nicht existieren. Was statt dessen gegeben ist, sind augenscheinlich materialtechnische Bemerkungen: «Leim,Acryl, Aluminium», «Kunstharz auf Holz», «Holz, Klebeband, Acryl», «Kunstharz, Leim,Glas», «Baumwolle, Acrylmedium», «Öl auf Baumwolle» oder - vergleichsweise barock -«Polyesterseil in PVC-Schläuchen, befestigt an bauseitiger Deckenkonstruktion». Die meisten Begriffe tauchen mehrfach auf, manchmal in unterschiedlicher Konstellation. So offengelegt verlieren die Materialien jeglichen Anspruch, in sich selbst bedeuten zu können, und werden statt dessen als Faktoren in einer spezifischen Konfiguration gesehen, d.h. im/als Werk. Gegen die Auszeichnung «nichttraditioneller» Materialien -man denke etwa an den Leim - und gegen die Idolatrie einer Materialästhetik setzt Reto Boller somit deren jeweilige, unterschiedliche Handhabung, welche die Spezifität des Werks sicherstellt. Mit anderen Worten: Die Begriffe in ihrer Buchstäblichkeit - und das damit verhängte materialästhetische Missverständnis - bilden das Werk nicht sprachlich ab, sondern erweisen sich nachgerade als unzureichend für eine spezifische Beschreibung der Werke, wie sie sich in der Betrachtung ausdifferenzieren, und vergrössern mithin die Distanz zwischen Ausgangslage (Material) und Zielpunkt (Werk). Es ist eine Sachlage, die sich verschärft, wenn man sich eine Sequenz von Werken vergegenwärtigt, die sich auf sprachlicher Ebene ähneln, aber phänomenal - als Objekte der Betrachtung und als Körper im Raum - eklatant voneinander abweichen.
Das mag als Nebenaspekt abgetan werden, aber schliesslich erlaubt auch Unterholz, einVerständnis über die Art des Waldes zu gewinnen. Gerechtfertigt ist ein solcher Zugang, weil bei Reto Boller die Umkehrung von Offensichtlichem und jenem dem oberflächlichen Blick Entzogenen oder von Oberfläche und Tiefe zum Kern der Sache führt; auch Überwindung des Gegensatzes von Zentrum und Peripherie, denn die meisten Werke thematisieren den buchstäblichen Rand, sei es, indem sie ihn in die Binnenfläche spiegeln, dort serialisieren oder abwandeln, sei es, indem sie ihn auszeichnen, betonen, so dass er von einer nicht wahrgenommenen Beifälligkeit zu einem durch Farbe und Form akzentuierten Bereich wird, sei es, indem Binnenformen an den Rand heranrücken, angeschnitten erscheinen und so eine imaginäre Fortsetzung in den Raum nahelegen, oder schliesslich, indem komplexe und dichte Allover-Strukturen die Verankerung des Blicks im Koordinatennetz der Bildtafel gleichsam von innen sprengen. Neben der buchstäblichen Grenze des Randes, die solche Verfahren gleichzeitig auflösen wie bestätigen, wird auch die buchstäbliche Limite der Fläche pulverisiert - und natürlich ist das Wirken der einen Auflösung von der anderen nicht klinisch zu unterscheiden. So lassen die Werke die buchstäbliche Fläche hinter sich durch spiegelnde oder (halb)transparente Oberflächen, die den Umraum diffus spiegeln auf Lichtverhältnisse im Raum reagieren und so für die Wahrnehmung veränderlich bleiben, darüber hinaus durch eine Farbpalette mit starken Leuchtwerten, wobei die pure Fläche des Werks hinter den Farbraum zurücktritt. Entsprechendes erreicht Reto Boller auch durch Farben mit ähnlicher oder kaum unterscheidbarer Tonalität, was zu einer Irritation in der Wahrnehmung führt. Sie verunmöglicht, das räumliche Verhältnis unterschiedlicher Bildsektoren zu bestimmen und so die Identität der Fläche zu etablieren.
Diese Liste der Verfahren ist zweifellos nicht erschöpfend. Und hinter der Rede von der Auflösung bildkonstitutiver Aspekte wie Rand und Fläche trifft man auf eine Praxis, die sich nicht lediglich kunstimmanenten Fragen verschreibt, sondern, ausgehend von konkreten materiellen Prozessen, die gegenseitige Bedingtheit vermeintlich klarer, absoluter Gegensätze freistellt. Eine solche Praxis deutet auch Identität um, die sich als eine von Zeit und Raum nicht unabhängige Kategorie erweist, sondern als Effekt raum-zeitlicher Konfigurationen. Zeit wird etwa virulent, wo das Werk mit der Wahrnehmungsschwelle spielt, so dass es erst von unterschiedlichen Standpunkten und Distanzen aus im eigentlichen Sinn sichtbar wird, d.h. in der Dauer, in der Betrachten den Raum vor dem Werk durchqueren und sich somit in einen zeitlichen Ablaufein gebunden sehen. Nur ein Beispiel dazu: Eine Arbeit von 1995 mit ihren Ausstülpungen unter geweisster Baumwolle scheint je nach Betrachterstandpunkt und Licht reine Fläche, während das Relief der Arbeit nicht wahrnehmbar ist. Einer ähnlichen Hinterfragung ist auch der bildkonstitutive Träger ausgesetzt, der bald sichtbar belassen ist, bald unter wulstiger Materie eingegossen liegt, mal abgerundet ist, mal in geometrischer Klarheit aufscheint, um dann wiederum hinter den irregulären Verlauf deckender Materie zurückzutreten. Gerüttelt wird aber auch an den Konventionen des Links-Rechts und Oben-Unten, die unter der Serialisierung der Binnenformen und den (Quasi-)Symmetrien erodieren, um nur zwei der augenfälligsten Verfahren zu nennen, wobei allgemeiner festzuhalten ist, dass es keine präetablierte Logik gibt, die die räumliche Ausrichtung der einzelnen Arbeiten an und für sich sicherstellte. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Offenheit und prinzipielle Unentscheidbarkeit auch damit zusammenhängt, dass die Arbeiten bei ihrer Entstehung nicht, wie Gestaltpsychologen sagen würden, in der Fronto-Parallelität wurzeln, d.h.dem üblichen Modus der Wahrnehmung, wonach der Blick immer vertikal auf das Objekt der Betrachtung fällt, und sich die räumliche Orientierung nach eingeübtem Muster vollzieht. In der Werkgenese dreht Reto Boller die Bildträger aus der Lotrechten in die Waagrechte, was den fronto-parallelen Kode aufbricht, indem der Künstler die Fläche potentiell von allen Richtungen her angehen kann. Die nachgängige Hängung ist meist nicht nur eine logische Folgerung werkimmanenter Vorgaben, sondern selbst Deutungsarbeit oder wenigstens eine nicht restlos vorweggenommene Entscheidung. Seit einiger Zeit wird auch die stillschweigende Übereinkunft in Bezug auf das Vorne und das Hinten torpediert, und zwar in Werken, die sich von der Wand lösen und buchstäblich in den Raum streben. In der vorliegenden Perspektive besteht zwischen allen Werken eine Kontinuität, die den Gegensatz zwischen malerischen und plastischen oder zwei- und dreidimensionalen Arbeiten suspendiert. Diese Kontinuität äussert sich negativ in der Hinterfragung aller bildkonstitutiven Aspekte bzw. im Ansinnen, scheinbar primäre und sekundäre Aspekte eines Werks nicht apriorisch und willkürlich zu hierarchisieren; positiv im Wunsch, dem Werk mehr, d.h. auch widersprüchliche Realität einzuschreiben, indem die Werke sowohl Diskontinuitäten als auch Kontinuitäten zwischen Raum und Zeit entfalten, was in der individuellen Erfahrung einzelner Betrachter notwendigerweise unterschiedlich zur Geltung kommt.
Was heisst das konkret? Das Licht, die Bewegung der Betrachter, die Struktur des Raumes sind den Werken, wie gezeigt, nicht äusserlich, sondern intrinsisch. Trotzdem könnte man skeptisch fragen: Legt das nahe, dass es trotz ihrer Veränderlichkeit einen idealen Zeitpunkt gibt, an dem die Betrachter die Summe ihrer Wahrnehmungen in einer totalen, in der Zeitgewonnenen Präsenz zusammenfassen können? Legt es nahe, dass ein Punkt in der Wahrnehmung erreicht werden könnte, an dem die unterschiedlichen phänomenologischen Phasen in einem Moment differenzloser, reiner Präsenz aufgehen könnten, wäre der Betrachter oder die Betrachterin nur sensibel genug, die unterschiedlichen Wahrnehmungen auf einen Punkt höherer Erfahrung hin - der Selbstpräsenz - zu kondensieren? Wären die unterschiedlichen Farben und Formen in Reto Bollers Werken lediglich Variationen der gleichen Geschichte über die Bildkonstitution und über ihre diskursiven Bereiche, müsste man vielleicht bejahen. Damit ist es aber nicht getan. Darüber hinaus deuten die Werke eine Objektwelt an, mag sie noch so potentiell und fragmentär sein, die in der individuellen Betrachtung durch Erfahrungen und Erinnerungen aktiviert wird. Ist da nicht ein Hügel zu sehen, dort ein Gitter, ein Fenster, eine Wiese, ein Kanalsystem, Wellen, eine Kolonnade oder herabfliessendes Wasser, ein Gartenhag, eine Matte, ein Fleck oder eine Wolke? Genau genommen stellen die Werke solche Erfahrungsgegenstände natürlich nicht dar, sie vermitteln eher die Illusion ihrer Gegenwart. Und genau diese Irruption (nicht aber Reproduktion) eines mentalen Bildes oder einer Vorstellungsgrösse in den nahtlosen und theoretisch unabschliessbaren Verlauf phänomenologischer Prozesse verleiht den Bildern von Reto Boller bei aller Offenheit etwas Zwingendes. Erst von diesem Punkt aus rücken die phänomenologischen Abläufe, wie sie sich in der Kombination von Licht, Raum, Wahrnehmung und Farbe, Form, Materie, Textur, Masse usw. artikulieren, in Perspektive. Anstatt allgemein von der Wahrnehmungsbereitschaft(selbst)bewusster Betrachter abhängig zu sein, die sich auf die phänomenologischenProzesse einlassen, legen die Arbeiten mentale Inhalte nahe, die aus dem unverwechselbaren Erfahrungszusammenhang der Individuen stammen. Dass diese Inhalte nicht Repräsentationen sind, nicht Platzhalter für die mentalen Bilder des Subjekts und mithin nicht im Geist präetabliert, sondern offen an der Schnittstelle von Realraum und Vorstellungsraum verweilen, wird symptomatisch auch in der Positionierung der Werke klar, deren Allusionen veränderlich bleiben, je nachdem, ob die Werke niedrige oder höhere Raumsegmente benützen und je nachdem in welcher Nachbarschaft zu anderen Werken sie zu stehen kommen. Es ist eine Ähnlichkeit mit ausschlaggebenden Differenzen, die verhalten schon in den (Nicht-)Titeln vorbereitet lag.
Die Arbeit von Reto Boller wäre, würde sie nur den Realraum instrumentalisieren, lediglich Rekapitulation der Minimal art. (Ich denke hier vor allem an die Version von Robert Morris aus der zweiten Hälfte der 60er Jahre.) Insofern sie zusätzlich dieVorstellungskraft der Betrachter in Anschlag bringt, scheint sie gleichzeitig mit einer gewissen Geschichte der Kunst verbunden zu sein sowie diese um die Analyse eines aktuellen Zeitgefühls zu erweitern, das bestimmt ist von der medialen, allzuoft unverbindlichen Bilderflut und der damit einhergehenden Einebnung von Zeit in einrichtungsloses Kontinuum; ebenso von einer Verdinglichung der Erfahrung, eine Sachlage, die Gefahr läuft, die Unterschiedlichkeit von Individuen und Kulturen zu einer simulierten Universalität zu bagatellisieren. Die Arbeiten von Reto Boller akzeptieren, wenn man so sagen kann, Bedingungen der visuellen Kultur und ermöglichen den Betrachtern zugleich, ein Verhältnis zum Realen zu gewinnen und so eine nicht fetischisierte Wirklichkeit zu vergegenwärtigen, die sich im Übergang von einem Ort zum anderen erneuert.