thurgaukultur.ch: Die Expressivität des leeren Raumes
Andrin Uetz
Ausstellungsbesprechung «bereit zu tragen», Kunsthalle Arbon
Zufällig und eigensinnig und doch alles am richtigen Platz: Reto Bollers Ausstellung in der Kunsthalle Arbon ist fast schon verstörend lebendig.
Wer die Kunsthalle kennt, ist es gewohnt, sich immer wieder aufs Neue überraschen zu lassen. Der markante Bau lädt zu grossformatigen Arbeiten ein. Auch diesmal betritt man etwas verwundert den Raum. Zu sehen ist erstmal eine grosse, weisse Fläche.Wie ein riesiger Modellbau mit zwei Stellwänden und weisser Klebefolie ist in die Halle so etwas wie ein Laufsteg gebaut. Dieser darf aber nicht betreten werden, und beim genaueren Hinschauen zeigt sich dieser White Cube doch weniger neutral und sauber als vermutet. Die Patina des von Zeit und Arbeit gezeichneten Bodens drückt durch die dünne Haut der Plastikfolie, welche schimmert wie nasser Asphalt. Das hat etwas Dunkles, auch wenn es blendet und glänzt im herabfallenden Sonnenlicht.
Unheimliche Erhabenheit
Schon Immanuel Kant hat in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) die Ästhetik des Erhabenen von einer Ästhetik des Schönen abgegrenzt. Das Erhabene versetzt die Betrachtenden in eine Form des Staunens, welche auch etwas Schauderhaftes hat. Der Blick in eine grosse Weite kann eine solche Wirkung haben, und dem Zürcher Künstler Reto Boller gelingt es, mit dieser riesigen weissen Fläche einen solchen Moment zu kreieren, denn erstaunlicherweise wirkt die Kunsthalle grösser als gewohnt. Die weisse Fläche ist eine Weite, in der sich der Blick zu verlieren droht, die fast etwas unheimlich wirkt. Es ist eine Fläche, die man nicht betreten darf, und auch lieber gar nicht betreten will, die aber, so scheint doch ganz gewiss, von anderen Wesen betreten wird. Andere sollen sich dieser Fläche aussetzen, und das wird dann auch gern gesehen, aus der sicheren Distanz. Schliesslich ist es ein Laufsteg und wir sind das Publikum.
Blick hinter die Kulissen
Interessanterweise verrät Reto Boller im Gespräch, dass die Idee mit den Stellwänden aus den Bestrebungen entstanden sei, einen Zustand des Dämmerlichts zu ermöglichen. Dieser findet hinter dem Laufsteg statt, wo eine Auswahl an Werken des Künstlers ausgestellt ist. Obschon, ausgestellt ist das falsche Wort. Vielmehr wirkt es so, als warteten diese abstrakten, aber auch sehr körperlichen und figürlichen Skulpturen aus Holz, Metall, Klebeband, Leim und Kleidungsstücken darauf, sich eben auf den weissen Laufsteg zu begeben.
Der Werkstatt-Charakter ist bewusst gewählt
Boller spricht von einem Werkstatt-Charakter, er habe bewusst nichts überinszenieren wollen. Gerade dadurch gewinnen die Arbeiten eine expressive Präsenz, weil sie eben nicht im White Cube, nicht in der Galerie oder im Museum im distanzierten Blick der Kennerschaft studiert werden. Sie liegen da, hängen an Ketten, sind an eine Wand gelehnt, mal lustvoll, mal sadistisch, mal entstellt wie Opfer eines Autounfalls. Das weckt Assoziationen von Katastrophen-Bildern aus der Boulevard-Presse, offenen Wunden, behelfsmässigen Verbänden.
Perfekte Imperfektion
Die Kuratorin Deborah Keller beschreibt den Titel der Ausstellung als behäbige Übersetzung des französischen “Prêt-à-porter” ins Deutsche. Im Gegensatz zur Haute Couture sind die Ready-to-wear-Kollektionen von der Stange nicht auf eine Person massgeschneidert, sondern werden nach einem idealtypischen Durchschnittsmuster in grösseren Auflagen vorproduziert.
Dieses kostensparende Verfahren hat den Effekt, dass sich nicht mehr die Kleidung dem Körper, sondern der Körper der Kleidung anzupassen hat. Die Kleidung wird zur Bürde, was durch “bereit zu tragen” wunderbar zum Ausdruck kommt. Das Entstellte, Kaputte, aber auch Idiosynkratische der Figuren von Boller wirkt wie eine Antithese zur Uniformität einer perfektionistischen Modewelt. In beeindruckender Weise ist hinter den Kulissen alles genau richtig an seinem richtigen Platz, welcher umso entschiedener zufällig und eigensinnig wirkt. So schwärmt Boller etwa vom Leim, welchen er als Farbe benutzt. Der Vorgang lasse sich zwar genau planen, aber dennoch nicht bändigen. Das Resultat; eine ebenso verstörende wie bereichernde Lebendigkeit.