Strömung
Irene Müller
Begleittext zur Ausstellung in der Galerie Mark Müller, Zürich
Die Ausstellung in der Galerie Mark Müller bietet die Gelegenheit, Einblick in die jüngsten Entwicklungen von Reto Bollers Werk zu nehmen. Pointiert platzierte Arbeiten verbinden die zwei Ausstellungsräume nicht nur inhaltlich miteinander, sie schreiben darin auch einen präzise konzipierten Parcours ein, der wiederum den Ausstellungstitel auf mehreren Ebenen referenziert. Gleichzeitig unterstreicht diese Anlage die Bezüge einzelner Werkgruppen zueinander, sodass sich die in Bollers Werk bestimmenden Medien und Fragestellungen gegenseitig kommentieren.
So eröffnet die Ausstellung mit einer selbstbewussten Geste: Ein annähernd quadratisches Gitter aus stählernen Rechteckrohren lehnt schräg an der dem Eingang gegenüberliegenden Wand, eine übermannshohe Struktur, der die schimmernde Metalloberfläche Eleganz und eine vermeintliche Leichtigkeit verleiht. Die ölig verschmutzen Lastgurte wiederum, die von ihrer Befestigung herab auf den Boden reichen, rücken diese Vorstellung gerade, bezeugen die materiale Last der Arbeit und verankern rauhe Bedingungen, Schweiss und Mühen in ihrem Assoziationsspektrum. Und obwohl G-15.1 (Abschluss) nur auf den ‹Spitzen› der Rohre zu stehen kommt, also minimalen Bodenkontakt aufweist, überstimmt der Eindruck von Gewicht, von körperlicher Bezugnahme und maskuliner Präsenz die erlesene Beschaffenheit des Metallgitters. Momentan hier platziert, aus einem anderen Kontext – einer Kanalisation, einer Industrieanlage? – entfernt, ja vielleicht sogar mit Gewalt herausgebrochen und hierher transportiert. Mit ihrer Positionierung signalisiert die Arbeit nicht nur ihre temporäre Aufenthaltsdauer, ihr vorübergehendes Abgestellt-Sein, sondern bringt auch gängige Kategorien der Malerei und ihrer Diskurse in eine ‹Schräglage›. Der Raster als einer der prägenden Topoi der Kunst des 20. Jahrhunderts, der nicht nur von konkret-konstruktivistischen Positionen, sondern auch hinsichtlich gesellschaftlicher Paradigmen und Entwicklungen auf vielfältige Weise künstlerisch untersucht wurde, erlebt in Bollers Arbeit eine eigenständige zeitgenössische Aktualisierung. Konstituierende Elemente wie das Bild-Geviert und die geometrische Präzision behalten zwar ihre Relevanz, treten jedoch nicht mehr als normative Gesetzmässigkeiten, sondern als Referenzen und Träger narrativer und (material-)semantischer Bedeutungsebenen in Erscheinung. Ihrer kanonischen Dominanz beraubt bieten sie Reto Boller Anlass zu Unterwanderung und kritischer Transformation. Und vor dem Hintergrund politischer Realitäten lässt sich diese Arbeit auch noch anders lesen: als ambivalente Setzung, die weder ihre Verführungskraft, noch deren Grenzen leugnet und beide Aspekte als bewegliches, transitorisches Gefüge vermittelt.
Diese ebenso vielschichtige, wie widerständige Auseinandersetzung mit kunstimmanenten (Gattungs-)Traditionen von Malerei und Objekt prägen auch die übrigen Arbeiten. In beiden Ausstellungsräumen präsent, stellen die grossformatigen ‹Tafelbilder›, die alle mit dem Titelzusatz (Strömung) versehen sind, den Bezug zwischen Fragen des Malerischen und Objekthaft-Plastischen her. Angeschnitten oder zentral platziert verweisen die Bildmotive auf Elemente einer nonverbalen Kommunikation, auf bildliche Codes und deren kulturelle Determiniertheit. Die formale Reduktion korrespondiert mit der limitierten Farbpalette, die jedoch bei genauerem Hinsehen deutliche Differenzierungen aufweist. Denn Schwarz ist nicht gleich Schwarz, es kann eine wärmere oder kältere Tönung aufweisen, ins Bläuliche oder Rötliche tendieren, es kann stumpfer, kompakter wirken oder leicht schwebend, glänzend. Gerade in dieser offenen Werkgruppe zeigt sich auch Bollers Interesse, Farbe im oder eher am Bild als konkreten Werkstoff mit spezifischen physikalischen und optischen Eigenheiten zu untersuchen, wobei der daraus resultierende Prozess immer auch Momente des Gesetzten und Unsicheren, von Zufall und Bestätigung in sich einschliesst. Denn Boller legt die farbigen Markierungen auf den in einigen Fällen weiss grundierten Aluminiumplatten dadurch an, dass er die Formen mittels eines Stegs aus Klebband begrenzt, in die er mit Acryl-Farbe gefärbten Leim giesst. In Anbetracht der Bilddimensionen kommt der körperlichen Verfassung des Künstlers, seiner Beweglichkeit und händischen Präzision, aber auch Umweltbedingungen und Materialeigenschaften eine zentrale Rolle zu. Und genau daraus resultiert letztlich auch die selbstverständliche Daseinsberechtigung dieser Bilder: Die in der vorab definierten, abgegrenzten Form gestockte Farbe weist keine perfekt homogene Struktur auf, Oberfläche und Randzonen zeigen Spuren materialer Eigendynamik, die letztlich trotz ihrer haptischen Präsenz den Eindruck einer genuinen Verletzlichkeit der Bildhaut hervorruft. Boller lotet in dieser Werkgruppe nicht nur die Wirkungsweisen visueller Symbolik aus; er befragt zudem die Möglichkeiten, wie heutzutage im Feld einer abstrakten, aber trotzdem bildhaften Malerei ein Bild Wirksamkeit entfalten kann und konterkariert dies zugleich mit maltechnischen Mitteln.Insofern verdienen die Assemblage-ähnlichen Objekte und Skulpturen eine nähere Betrachtung, denn in ihnen gelangen taktile und optische Erfahrungen so in Interaktion, dass die Körperlichkeit der Betrachtenden angesprochen wird. Verschiedene Werkstoffe und vorgefertigte Gebrauchsgegenstände treten in diesen Arbeiten in ein Spannungsverhältnis, das über formalästhetische, materiale und inhaltliche Aspekte in eine Art «body-body-transmission» ausstrahlt. So stellen Arbeiten wie PR-15.3 (Löschblatt) oder PR-16.1 (machine head) eine unmittelbar affektive Reizung her, die auf leibliche Wahrnehmungen übergreift. In beiden Arbeiten wird diese Ebene insbesondere durch den Einsatz textiler Materialien, genauer gesagt von rosa bzw. hautfarbigen Elastikverbänden oder zerrissenen, verknoteten T-Shirts hervorgerufen, die über die Holzlatten bzw. deren Gelenkstellen appliziert sind und Versehrtheit sowie (emotionale) Fragilität evozieren. Hart und weich, beweglich und starr prallen aufeinander, rufen Bilder von bandagierten Extremitäten, Prothesen oder verletzten Maschinenwesen hervor. Dass sich die Assoziationen nicht in (psycho-)somatischen und affektiven Dimensionen erschöpfen, liegt an dem unverstellten, fast pragmatischen Einsatz der applizierten Alltagsgegenstände, Materialien und Bauteile. Ihnen verdanken die Arbeiten den Eindruck einer fast trotzigen Selbstbehauptung, einer nachdrücklichen Artikulation von Existenz.
Einige Arbeiten vermitteln zudem eine inhärente Handhabbarkeit, wie z. B. das bereits erwähnt «Löschblatt», bei dem die umwickelten Latten dann zu Griffen werden, mittels derer der Badezimmerteppich – ähnlich einer Löschwiege – angehoben und gebraucht werden kann. Noch deutlicher suggeriert HG-16.1 eine Benutzbarkeit: Bei der roten Farbe auf dem vertikal montierten Metallgriff, der in seiner Positionierung an den Griff einer massiven Türe erinnert, handelt es sich gerade nicht um malerische Signaturen wie Rippspuren oder Drippings, sondern um Spuren einer händischen Aktion seitens des Künstlers, dem effektiven Angreifen des Gegenstandes, dem taktilen Begreifen seiner formalen und materialen Gegebenheiten. Und doch bleibt trotz aller Körperübertragung, trotz aller Erfahrungen einer assoziativen ‹Einfühlung› in den Arbeiten immer ein distanzierender Rest wirksam, der sie für weiter ausgreifende Rezeptionskontexte öffnet.
So kehrt man nach dem Rundgang durch die Ausstellung vielleicht nochmals zu deren Titel zurück und gelangt zu dem Schluss, dass Reto Boller mit «Strömung» zwar sicherlich kunsthistorische Tendenzen anspricht, aber ebenso werkimmanente Prozesse wie gesellschaftspolitische Phänomene: Denn fasst man die «Strömung» als Synonym für Klima oder Temperatur auf, dann zeigt sich anhand dieser Ausstellung, dass die handelnde, körperliche Bezugnahme – und im übertragenen Sinn auch die politische Positionierung – eine Präsenz und Wirkungsmächtigkeit erreicht, die künstlerische und gesellschaftliche bzw. alltägliche Fragestellungen miteinander verbinden kann. Reto Bollers Arbeiten positionieren sich weder über Projektkontexte noch anhand der Titelgebung explizit in diesem Feld, trotzdem legen sie nahe, dass zwischen künstlerischen Fragestellungen und unmittelbarer Lebensrealität ein Bezug besteht, der in den Arbeiten – vielleicht auch unterschwellig – verarbeitet wird. Und gerade dadurch behauptet Reto Boller seine eigenständige Position nicht nur innerhalb kunstimmanenter Diskurse, sondern auch in einem Kontext von Alltagserfahrung und dezidiertem Gegenwartsbezug.