Originalausgabe — PDF
zur Ausstellung

Straight Story

Marlene Bürgi

Begleittext zur Ausstellung in der Galerie Mark Müller, Zürich

Laurens, Iowa, 1994. Alvin Straight, ein pensionierter Farmer, möchte seinen erkrankten Bruder besuchen, obwohl er weder Auto noch Führerschein besitzt. Alvin begibt sich deshalb mit einem alten Rasentraktor auf eine eigenartige Odyssee durch den Mittleren Westen der Vereinigten Staaten. Die Reise von Iowa bis Wisconsin führt durch weitere Landschaften, über endlose Strassen und zu unerwarteten Begegnungen. Der auf wahren Begebenheiten beruhende Film von David Lynch bezeichnete der Regisseur mit gutem Grund als Anomalie seiner eigenen Filmografie: «The Straight Story» (1999) ist eine geradezu schnörkellose Geschichte ohne tiefe Abgründe. Mit Verzicht auf den Rasenmäher, doch mit ähnlicher Direktheit lädt auch Reto Boller zu einer gemeinsamen Reise ein: In der Galerie Mark Müller begegnen wir fünf neuen Werkkomplexen des Schweizer Künstlers, welche die Mehrdeutigkeit von Spuren und Situationen entfesseln – mit eingehender Dringlichkeit und erkennbarem Kalkül.

Reto Boller entwirft vermeintlich vertraute Geschichten des Alltags und umarmt dabei gleichsam ihre Zufälligkeit, Schönheit und Prekarität. So bringt die Ausstellung verschiedene Momente und Materialien zusammen, deren unbändiges Potential Boller auf formaler und inhaltlicher Ebene ausschöpft. Die Mitte des Galerieraumes ist mit einer seltsamen Bühne ausgestattet. Der darauf ausgelegte Teppich ist ein «locus delicti» im doppelten Sinne: Lässt die rote Farbe zunächst Unheil vermuten, zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass die Spuren des vermeintlichen Täters jene eines grossflächig malerischen Farbauftrages sind. Die Farbmenge dieser künstlerischen «Tat» verändert die Struktur des Teppichs in eine bewegte Oberfläche, die eher einer roten Wüstenlandschaft gleicht, ohne die tatsächliche Beschaffenheit von Farbe und Teppich zu verschleiern. Als Alltagsobjekt, Ausnahmesituation und Bildträger zeugt Roter Teppich (2022) von Bollers Interesse, die konkret materiellen und referentiellen Eigenschaften von Farben, Objekten sowie Werktiteln auszuloten und damit schwankende Bedeutungsdimensionen zu schaffen.

Ein Blick nach links lässt ein weiteres textiles Element erkennen. Im Gegensatz zum Teppich liegt der violette Gleitschirm direkt auf dem Boden und wölbt sich an einzelnen Stellen, als könnte dort die Restluft seines Sinkfluges nicht mehr entweichen. Vier Betonblöcke beschweren den Stoff und nehmen damit dem Luftsportgerät dessen intendierte Funktion. fixiert (2022) umgibt eine bezeichnende Ambiguität: eine irreversible Landung des Schirmes, dessen bunte Fangleinen und Faltenwürfe nahezu ornamental oder gar zeichnerisch wirken. Diese Gegensätze birgt ebenso das leuchtendorangene Warnschild (Hand, 2022) an der Stirnwand des Raumes: Das vom Künstler modifizierte Piktogramm mag zwar auf eine immanente Gefahrensituation hinweisen, doch direkt vor dem Print stehend, nimmt uns die betörend satte, auf drei mal drei Metern ausgedehnte Farbe beinahe körperlich ein.

So rätselhaft und uneindeutig die hier evozierten Narrative sein mögen, sie treffen immer auf materielle Unmittelbarkeit. Bestechend direkt sind auch die fünf herkömmlichen Stahlwinkel, die als Täger unterschiedlicher Kleidungsstücke agieren. Hosen, Schuhe, Gürtel, T-Shirt und Pullis hängen in rund eineinhalb Metern von der Wand und vermitteln den Eindruck eines architektonischen Elementes, das die Wand und den Ausgang zum Hinterhof der Galerie säumt. Sie veranschaulichen zwar körperliche Absenz, aber erfüllen nicht zuletzt genau jene Funktion, welche der Titel ihnen nahelegt: Kleiderhaken (2022). Der architektonischen Denkrichtung folgend, lassen sich die hängenden Kleidungsstücke sogar als abstrakte Karyatiden – als fünf tragende Gewandfiguren der griechischen Antike lesen. Im Umkehrschluss wäre der auf stelzenartigen Aluminiumprofilen thronende Hoodie (A-22.1 (Artist), 2022) somit ein an die Wand gelehnter Atlant, der nicht die Decke, sondern den Boden mit seinen langen silbernen Armen zu stemmen scheint.

Die Ausstellung «Straight Story» greift verschiedene Momente einer mehr oder weniger fortlaufenden Geschichte oder Spurensuche auf, welche die Möglichkeit einer individuellen Leserichtung niemals ausschliesst. Boller geht verschiedenen non-linearen Narrativen nach, die sich ständig zurückdrehen, sich verzweigen, verdichten und unkontrolliert weiterwachsen. Gerade deshalb können wir den Anfang oder das Ende seiner Arbeiten nie ein für alle Mal festlegen. Die Werke sind ständig rotierende Assoziationsketten, die sich wie in einer wild erfundenen Geschichte aneinanderreihen, doch mit einem entscheidenden Unterschied – bei Reto Boller basieren sie immer auf wahren Begebenheiten