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Schwellensituationen – Zu Reto Bollers neuen Arbeiten

Invar Torre Hollaus

Einführung anlässlich der Ausstellung «Senderöhren und Schallschatten» in der Galerie Mark Müller, Zürich

Die aktuelle Einzelausstellung von Reto Boller, die unter dem Titel «Senderöhren und Schallschatten» in der Zürcher Galerie Mark Müller (24.10.-19.12.2009) zu sehen ist, bietet die Möglichkeit, sich die Werkentwicklung anhand der neuen Arbeiten zu vergegenwärtigen, der hier genauer nachgegangen werden soll. Als wegweisend in der Wahrnehmung dieser Werke erweist sich bereits der für die Ausstellung gewählte Titel, der zwar Konkretes bezeichnet, zugleich aber auch ein ambivalentes Moment in sich trägt. Es handelt sich jeweils um technisch-physikalische Begriffe; der eine (Senderöhren) weist auf eine konkret materielle Komponente hin, der andere (Schallschatten) thematisiert ein Moment des Sich-Entziehens, des Nicht-Greifbaren, welches in Bollers bisherigem Schaffen stets virulent gewesen ist. Von den Werken wird also ein komplexer, mehrdeutiger Impuls ausgesendet.­Der Begriff des Schallschattens ist für das Werkverständnis dabei besonders aufschlussreich: Ein solcher entsteht, wenn sich auf direktem Schallweg zwischen dem Hörer und der Schallquelle ein Hindernis befindet, wodurch das Geräusch eine Modifizierung erfährt. Auf die visuell-perzeptuelle Ebene übertragen, lässt sich diese Erfahrung des Widerstands auch an den neuen Werken des Künstlers deutlich festmachen.

Zustände des Übergangs
Seit Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit arbeitet Reto Boller an einer intensiven Befragung der Medien „Bild“ und „Objekt“ und was mit diesen in der zeitgenössischen Kunst zu erreichen ist. Damit einher geht auch eine konsequente Auflösung traditioneller Gattungsgrenzen, in dem die Farbe bzw. das Bild(objekt) sich nicht nur an der Wand, sondern oftmals sehr prominent im gesamten Raum konkretisiert und so zu einer intensiven dialogischen Vernetzung führt. In den neuen Arbeiten weicht die für das frühere künstlerische Schaffen charakteristische kräftige Farbgebung oftmals der Eigenfarbigkeit und der natürlichen Beschaffenheit der verschiedenen Materialien, die auf diese Weise in eine neue Wahrnehmungsebene überführt werden. Materialien und Objekte werden zweckentfremdet und verlieren dabei ihre ursprüngliche Funktion bzw. ihren Sinn. So entstehen Zustände des Übergangs und subtile Mehrdeutigkeiten, da die verwendeten Materialien weder in eine rein ästhetische Schau abgekoppelt werden noch völlig in ihrer ursprünglichen Stofflichkeit verhaftet bleiben. Durch die ungewohnten, aber keineswegs beliebigen oder gesuchten Zusammenstellungen verschiedenster Werkstoffe entstehen Konfrontationen, die neue Lesarten und Impulse mit – ästhetischen wie perzeptuellen – Widerständen erzeugen. Dies evoziert dynamische, spannungsgeladene Rückbezüge in der Auseinandersetzung mit unserer Gegenwart und an und für sich vertrauten Materialien wie Holz, diversen Metallen oder Kunststoffen. Aus diesem Vorgehen resultieren autonome Objekte, die sich nicht mehr auf eine eindeutige, bestimmte Kategorie beschränken lassen, sondern stets in einem mehrdeutigen, ambivalenten Daseinszustand verharren, welches ein typisches Phänomen für Reto Bollers bisheriges Werk ist.

Freilegung verstellter Sichtweisen
Ein visuelles „Wohlbefinden“ bedienen diese Arbeiten nicht. Ihre rohe, hermetische oder aseptisch saubere Beschaffenheit entfaltet eine unmittelbare Direktheit auf den Betrachter, der sich mit Objekten konfrontiert sieht, die sich klar im jeweiligen Raum manifestieren, obgleich sie häufig nur aus fragmentierten Einzelteilen und eigentlichen Negativformen bestehen. Denn nicht selten blickt man auf sprödes Stückwerk oder auf an und für sich unbesetzte, vermeintlich „leere“ Flächen. Dies zeigt sich besonders deutlich an den aus poliertem Stahl gefertigten mehrteiligen Objekten, die übereinander gelegt und verformt an der Wand lehnen oder hängen. Sowohl auf der reflektierenden Oberfläche des Metalls als auch durch die Durchblicke auf die dahinter liegende Wand konkretisiert sich der Raum auf ungemein vielfältige und komplexe Weise. 

Im Jahr 2007 setzt der Künstler erstmals in Arbeiten überblendete und fragmentierte Buchstaben als Versatzstücke ein (damals noch als „Hinterhof“ entzifferbar), oder er nutzt sog. Spritzlinge von Modellbausätzen, die als Schablonen in reliefartigen, teils aus Negativformen bestehenden Objekten eingesetzt werden. In den neuesten Arbeiten greift er wiederum auf Buchstaben sowie auf Zahlen zurück, die nun aber nicht mehr eindeutig bestimmbar sind. Die Fragmente (zumeist aus schwarzer Glanzfolie) werden so auf Metall- oder Kunststoffflächen appliziert, dass damit sowohl Buchstaben als auch Zahlen assoziiert werden können. Eine klare Lesbarkeit bekannter Strukturen oder Zusammenhänge wird nicht mehr impliziert. Die Verfremdungen solcher Elemente werden genutzt, um sie in eine Gestaltungsebene zu überführen, in der sich ihre Wirkungskraft potenziert. 

Häufig sind die Randzonen mit diesen ambivalenten Kürzeln besetzt, während die Binnenflächen bzw. Zentren unbesetzt bleiben. Es wird hier gleichsam von einem geradlinigen, zentral orientierten Blick abgerückt und das Zentrum der Aufmerksamkeit an die Randzonen verschoben. Durch Formen und Farben werden diese dezentrierten Bereiche akzentuiert, wodurch die Arbeiten eine zusätzliche substantielle Verdichtung erfahren. Was wird nun in diesen ausnahmslos unbetitelten Werken, in denen nur auf die verwendeten Materialien hingewiesen wird, sichtbar gemacht? Es handelt sich um eine Form abstrahierter Realitäten, die auch die Widersprüchlichkeiten des Alltags thematisiert. Es werden keine eindeutigen und konkreten Wahrnehmungs- und Erfahrungszustände mehr anschaulich gemacht, eher der Gegenwart und Realität innewohnende Illusionsgehalt. Hier ist der Betrachter in hohem Masse gefordert, seine Imagination zu sensibilisieren, um Realitätsbezüge zu erkennen und sich in der Verdinglichung von Erfahrung von diesen Werken weiterführen zu lassen.