Ohne Titel (1997)
Konrad Bitterli
Aus dem Katalog «Reto Boller», Cahier d’artistes
The main thing wrong with painting is that it is a rectangular plane placed flat against a wall. Donald Judd
Mit solchen Äusserungen begründete Donald Judd, der Altmeister der Minimal Art, eine künstlerische Praxis, welche die traditionellen Gattungen bildender Kunst aufzulösen begann. "Specific objects" nannte er seine Gebilde, weder eindeutig Skulptur noch Malerei. Mit Initialgesten dieser Art wurde vielleicht zum letzten Mal in der Geschichte der Moderne der Kunst ein weites Feld ungeahnter formaler Möglichkeiten eröffnet.
Die grundsätzliche Infragestellung der traditionellen Malerei und die Auflösung der überlieferten Gattungsgrenzen sind unabdingbare Voraussetzungen für das Schaffen von Reto Boller. Hineingewachsen in die von der Pioniergeneration der sechziger Jahre bereitgestellten materiellen wie konzeptuellen Möglichkeiten bildender Kunst geht ihm der missionarische Impetus der längst zu Ende gegangenen Moderne ab. Die Auflösung traditioneller Kategorien ist in seinem Schaffen kein Ziel an sich mehr. Genauso wenig mag der Künstler seine Malerei in engen Gattungsgrenzen betreiben, um das Medium Malerei gewissermassen "fundamentalistisch" neu zu bestimmen. Und dennoch ist eine präzise Vorstellung des Bildes entscheidender Ausgangspunkt für das vertiefte Auslotendes künstlerischen Potentials von Malerei.
Der "Ausstieg aus dem Bild", die metaphorische Bewegung aus der Fläche der Bildtafel, offenbart sich mit vehementer Entschiedenheit in einem Ensemble von Werken Reto Bollers, die als reliefartige Bildstrukturen real aus der Wand in den Raum treten. Ihren Ursprung hat diese befreiende Bewegung in Reto Bollers Verständnis des Bildträgers als eines plastischen Elementes auf der Wand. Diese durchaus nicht neue Erkenntnis führte vorerst zu den in Leim oder Kunstharz gegossenen Bildtafeln, mit denen der Künstler in den vergangenen Jahren verschiedentlich prominent hervorgetreten ist. Sie förderte darüber hinaus auch die Erweiterung des rein Bildnerischen ins Plastische gewissermassen von der zweiten in die dritte Dimension. So entstand eine Werkgruppe zu der auch eine Arbeit ohne Titel (1995) zu zählen ist: Der Künstler stülpte gelbe Polyäthylen-Schläuche über lange Holzdachlatten. Den Schläuchen wurde dadurch eine starre Form aufgezwungen. Einzig an den Enden traten sie darüber hinaus und bildeten einen kappenartigen Abschluss. Die einzelnen Hölzer wurden danach waagrecht übereinander gereiht und zu einer geschlossenen Bildtafel verbunden. Als Ganzes evoziert die in ihrer räumlichen Ausdehnung verhaltene Arbeit ein traditionelles Tafelbild in extremem Querformat, gleichsam eine leuchtende Farbfeldmalerei, deren Farbigkeit indes auf ungewohnten Werkstoffen beruht. Reto Boller konzipierte im weiteren auch Werke an der Schnittstelle von Malerei und Plastik, beispielsweise 1996 im Zürcher Schöllerareal, wo er in situ eine Installation aus bemalten Holzlatten realisierte. Diese standen wenige Zentimeter von der Wand ab und traten durch ihre kräftige Farbpräsenz mit der weissen Fläche in einen permanenten visuellen Dialog. Exemplarisch für diese Werkgruppe ist eine Arbeit ohne Titel, welche der Künstler für eine Ausstellung 1997 in der Galerie Mark Müller schuf, wo er sie an der dem Eingang gegenüberliegenden Stirnwand unter einem Oblicht [Oberlicht] platzierte.
Die Arbeit zeichnet sich durch einen komplexen Aufbau in verschiedenen sich überlagernden Schichten aus. Sie besteht in einer ersten Materialschicht aus einer hochrechteckigen, vermeintlich direkt an der Wand angebrachten Aluminiumplatte, wie sie in ihrer reinen Materialität beispielsweise auch in Werken Donald Judds auftauchen könnte. Darüber legt Reto Boller jedoch ein Raster von drei senkrechten über vierwaagrechte hölzerne Dachlatten. Diese beizt er auf den sichtbaren Seiten dunkel während die nicht sichtbare Rückseite mit gelber Leuchtfarbe bemalt wird. Die senkrechten Latten lassen sich so als leuchtende Spiegelung, als gelber Schein auf der gleissenden Aluminiumplatte wahrnehmen. Die Rasterstruktur erweitern zwei etwas dickere Holzlatten, welche, aus der Symmetrie herausgenommen und vor das Rastergesetzt, bis zum Boden reichen. Diese Latten weisen eine klar erkennbare Funktion auf: Statisch halten sie das "Bild", welches wider Erwarten nicht an der Wand verankert ist und visuell dienen sie der Verbindung von der Wand auf den Boden und in den Raum. Das "Bild" wird "geerdet" und tritt in den Raum hinaus, es wird zum eigentlichen Bild-Objekt.
Die Werkstoffe, welche der Künstler für diese Arbeit benutzt, sind nur zum Teil konventionelle Malmaterialien wie die leuchtende Acrylfarbe auf der Rückseite derHolzlatten. Farbe wird in Reto Bollers Schaffen meist, in Kunstharz oder Leim gebunden gegossen, mit Pinsel aufgetragen dagegen eher selten. Allein, in dieser Arbeit werden die hergebrachten Malmaterialien durch solche aus dem Baubedarf wie Holz oder Aluminium ersetzt, die - wenn überhaupt - eigentlich dem skulpturalen Bereich, denTraditionen der Minimal und Post Minimal Art zuzuordnen sind. Sie lassen das Bild auf der Wand in den Raum treten. Dennoch bleibt der Bezug zur Wand und damit zur prägenden Malereitradition spürbar. Obwohl die Bewegung aus der Fläche in den Raum sich bereits in der Materialwahl ankündigt, ist diese nie willkürlich, sondern ordnet sich einer präzisen bildnerischen Idee unter und befragt dabei in grundsätzlicher Art die Wertigkeiten und Übereinkünfte traditioneller Malerei. Mit den gefundenen Werkstoffen schafft Reto Boller autonome Bildstrukturen jenseits fein austarierter Kompositionen. Seine Gliederungen beziehen sich auf die gesamte Bildfläche bzw. auf die gesamte umgebende Wand. Das Horizontal-Vertikal-Raster der vorliegenden Arbeit ruft den von der konkreten Kunst des 20. Jahrhunderts ausgeprägten Standart wach. Die verbindlicheOrdnung der Moderne wandelt sich in seinem Werk zu einer austauschbaren Struktur neben anderen, zu einem eigentlichen Spielelement. Das Raster wird denn auch von einer weiteren Bild-Schicht visuell und materiell überlagert und seiner traditionellen Bedeutung entledigt. Reto Bollers Werk, das wird bei genauerer Betrachtung evident zielt nicht auf die von der Kunst der Moderne eingeforderten Prinzipien wie Reinheit der Mittel oder Einheit der Bildsprache.
Dem Werk ohne Titel ist wie so vielen Arbeiten des Künstlers eine permanente Latenz zwischen Fläche und Raum, zwischen Bild und Objekt eigen. Trotz des deutlich wahrnehmbaren Heraustretens aus der Wand vermittelt es nicht nur oder nicht primärden Eindruck eines plastischen Volumens oder eines kräftigen materiellen Körpers. Es ist der spürbare Bezug zur Wand und damit zur Tradition der Malerei, es sind die vielgestalten Phänomene in der Fläche der zweiten Dimension, die immateriellen Erscheinungen, das Leuchten und die Spiegelungen von Farbe auf der glatten Aluminiumfläche, welche das Wesen der Arbeit bestimmen. Diese Erscheinungen wurden in der Installation in der Galerie Mark Müller noch durch die geheimnisvolle Reflexion des Oberlichtes auf der Aluminiumplatte verstärkt, die ein zartes Leuchten in den eher dunklen Ausstellungsraum zauberte. Solche ephemeren Phänomene prägen als entscheidendes visuelles Momentum die Arbeit, eine Arbeit, welche letztlich bei aller Eigenwilligkeit und Freiheit der Materialisierung um wesentliche Fragen der malerischen Erscheinung kreist.
Die Auseinandersetzung mit den weit zurückreichenden Traditionen der Malerei manifestiert sich jedoch nicht nur im real durchbrochenen, visuell indes unauflösbaren Bezug des Objektes zur Wand oder in der differenzierten Farbwirkung, sondern auch in der dem Werk zugrundeliegenden Bildstruktur, die an ein Fenster erinnert. Das Fenster als eigentlicher Durchblick, die Malerei als Ausblick in eine fiktive Welt, ist eine der wiederkehrenden Metaphern der Tafelbildtradition. Nur, der vermeintlichen Tiefe des fiktiven Bildraumes tritt in Reto Bollers Werk die reale Flächigkeit der autonomen Bildstruktur entgegen, sie löst das geheimnisvolle Leuchten des Werkes in der schlichten Materialität des Bild-Objektes auf. Das traditionelle Tafelbild wird zum autonomen Gegenstand in einer Welt voller funktionierender Objekte. Am Übergang zwischen Bildraum und realem Raum setzt Reto Bollers Werkgruppe ohne Rücksicht auf dieVerlockungen des Alltäglichen zu einem rein künstlerischen Diskurs über das Bild an. Dabei verfolgt der Künstler eine durchaus überlegte Strategie der sanften, aber unnachgiebigen Befragung, der dauernden Verschiebung, Erweiterung und Neubestimmung des überlieferten Tafelbildes - um gewissermassen der von Donald Judd verurteilten Flächigkeit der Malerei nochmals etwas abzugewinnen.