Narziss, Paradiescreme und grenzenloses «Floating» Bild-Körper-Relationen

Andreas Baur

Aus dem Katalog : «...ein Himmel wie blaues Porzellan».

Dem Grundsatz nach lassen sich im Werk Reto Bollers zwei Typen unterscheiden: Arbeiten, die vor Ort und Arbeiten, die im Atelier entstehen, die also reisefähig und von längerer Dauer sind. Sie verbindet das Experiment am Material, das Amalgam sowie die Stringenz, auch Eindeutigkeit der Strategie. 

Während des Aufbaus der Ausstellung wurde ich in einem Gespräch vor der – auf Zeit – glänzend gelben Lache Reto Bollers an die Geschichte von Narziss erinnert. Der Hinweis ist frappant, weil er zugleich enttäuscht angesichts der auf einen schnellen Blick außerordentlichen Einfachheit des optischen Befunds: Großzügig ufert, scharf konturiert und von eher amorpher Gestalt, strahlend gelbe Farbe auf dem Boden aus, greift in gleicher Breite ein Stück weit hoch entlang der Wand, fast so, als ging’s um eine Spiegelung. Tatsächlich spiegelt sich das Gelb im Gelb. Eindrücklich präzise ist die Geste, im Raum formal aufs Feinste austariert und stimmig. Es bleibt gerade Platz genug, dass man den „See“ umwandern kann. BeimBlick hinein zeigt sich der Spiegel stumpf. Er wirft entgegen der Erwartung kein Bild zurück. Strukturen schlagen durch, wie das Muster des Parketts und Spuren seinesGebrauchs. Das Licht spielt auf der glossy-gelben Oberfläche, generiert eine Vielzahltoniger Valeurs. Die Farbe greift, auch in Reaktion auf wechselndes Tageslicht, Raumund nimmt ihm augenscheinlich seine Grenzen. Der Schnitt bestimmt den Übergang. Die Form erscheint von außen definiert, nicht umgekehrt, und so brisant aufs Körperliche bezogen. Das Shape der Lache, einer dünnen Haut selbstklebender Folie, ist vor Ort bestimmt, zugeschnitten, als superflacher Körper den räumlichen Gegebenheiten eingepasst. In der Ausstellung benachbart, ein Kommentar zum Thema „Schnitt“ (auch Schatten und dem Verhältnis Bild-Betrachter), das Wandbild von Paul Morrison. Aus Harald Brauns „Lichthof“ grüßen digital gedruckte Spiegelungen auf polierten Kotflügeln schwäbischer Edelsportwagen herüber. 

Reto Bollers Lache ist Ergebnis einer zugespitzten Vorgehensweise, die eine präzise Unterscheidung von Bild und Träger in den Wind schlägt, dafür die Frage exponiert, ob von einem Träger überhaupt gesprochen werden kann. Oder ist’s ein unvorstellbar dünner Körper? Was hängt woran? Freiheit prägt vergleichbar radikal und präzise auch die schwarze Wandarbeit: Geschwungene Schlaufen, ein Netz organischer Zellen, zeichnet ein Kabel auf der Wand, das gehalten und verdeckt wird durch eine super dünne schwarze Folie. Sie spannt sich glänzend über Kabelwülste, in den Zwischenräumen die körnige Textur der Wand. Die organische Form des Flecks bestimmt der Schwung der Schlaufen, ist ausgeschnitten und so bemessen, dass die Wand sie eben noch verkraften mag. Licht streut von der Seite. Geführt durch Reflexe und Spiegelbilder beginnt man, sich vor dem Schwarz ständig neu zu positionieren und so als Betrachter selbst Raum – und Zeit – in Anspruch zu nehmen. In Bewegung vor einem Bild, wo traditionellerweise bei festem Standort Einansichtigkeit und Fokussierung erwartet werden darf? Selbst Reto Bollers transportable Arbeiten, die dem klassischen Tafelbild vermeintlich näher scheinen, fordern dies. Das Feld über pastos weicher rosa „Creme“ beginnt erst zu oszillieren, wechselt man vor der Arbeit die Position oder nimmt sich Zeit. Einmal dicht geschlossenes Braun, dann differenziert, nimmt es in seinen Schlieren spielerisch Bezug zur geschwungenen Horizontale, welche die Materialien trennt. Dünn sind die metallenen Gründe. Und liegen manchmal offen. Das stumpf matte Aluminium erscheint in unterschiedlicher Schattierung, weil durch eine vertikale Bahngeschütteten grauen Lacks geteilt, der überdies genau jenen Glanz beiträgt, den man am Blech erwartet hätte. Schütten, fliesen, Parodie des Drippings (eines Jackson Pollocks?) und – all over – Grenzen weiten: Schlagworte auch zu einem Amalgam aus gelbem Leim und weiß grundiertem Blech. Und nicht allein für diese Arbeit gilt, dass neben ihrer materialen Dimensionen fast gleichbedeutend steht, was jenseits dieser liegt, auch das, was fehlt. Am höchst differenzierten Kontur der strahlend gelben Fläche – hart, weich, ausgedünnt... – lässt sich deren Genese lesen: bei kontrolliertem Verlauf geschüttet, ist der Fluss entlang später dann entfernter Scheiben wohl gesteuert. 

Die Arbeiten bleiben offen für Interpretation und Projektion: Sprechblase,Landschaft, Körperpartie, Zellstruktur oder rosafarbene Paradiescreme? Angeregt durch das Flanieren entlang der Boulevards oder der Ausfahrt im Cadillac? Wie dessen kunstlederner Sitzbezug ist die Stofflichkeit der Bilder bisweilen fies, bei allem Glamour, den die transformierten industriellen Materialien ausstrahlen. Was läuft imAutoradio? Die Arbeiten Reto Bollers markieren eine Extension der Malerei, sie sprengen ein konsistentes Verhältnis von Bild und Träger. Charakteristisch ist ihnen, dass sie den Betrachter zur Bewegung fordern und vor allem die Pointierung radikaler Positionen. Auf sie scheint zuzutreffen, was Johannes Meinhardt bereits auf das Werk Blinky Palermos bezog, nämlich dass es sich verstehen lässt als ein „Malerei- oder Gemäldewerden der Wand, des Raums, der Umgebung, der Situation, die traditionellerweise als Außen und Hintergrund aus dem Kunstwerk ausgeschlossen bleiben; ein Malereiwerden als künstlerische und pikturale Arbeit an kontingenten Trägern und realen Flächen, die in das Spiel pikturaler Differenzierung hineingezogen werden.“1 Dies gilt auch für die Arbeiten von Reto Boller, der sich, mit den Worten Markus Stegmanns, „als Erfinder an den extremen Randlagen der Malerei zuerkennen (gibt)“. Doch nicht allein die Erfindungen an sich begeistern, sondern die immer neuen Versuche, malerische Impulse in einen räumlichen Kontext zu flechten.“2 Reto Boller nimmt Zuspiele zum Beispiel eines Blinky Palermos auf, vielleicht auch welche von Ellsworth Kelly 3 sowie dem Minimal und geht über sie hinaus. Einfach, eindeutig vielschichtig, immer wieder, immer wieder neu, undogmatisch und verführerisch überraschend!

1 Johannes Meinhardt, Blinky Palermo, Materialistische Aura, in: eEnde der Malerei und Malerei nach dem Ende der Malerei, Ostfildern/Ruit 1997, S. 171.

2 Markus Stegmann, in: Die Pracht erwacht. Beobachtungen zur Malerei.Kat. Museum zu Allerheiligen/Kunstverein Schaffhausen, Basel, 2001, S. 20.

3 Etwa dessen „yellow curve“, eine Arbeit, die 1990 im Frankfurter Portikus eingerichtet war.