zur Ausstellung
Kunstbulletin: Feinsinniger Baumeister der wuchtigen Geste
Julia Schmidt
Text zur Ausstellung «hier» im Museum Langmatt, Baden, Kunstbulletin Nr. 12, Fokusbeitrag
Sie sind eigenwillig, häufig sperrig, manchmal gar rabiat. Doch Reto Bollers Werke zeugen von feinstem Gespür für formale, konnotative und kunsttheoretische Zusammenhänge. Seine Interventionen im Museum Langmatt sowie sein neuestes Kunst und-Bau-Projekt in Kaiseraugst nehmen das Publikum in Beschlag – und hallen vielschichtig nach.
Der Künstler hat sich nicht etwa unter ein Transportunternehmen geschmuggelt: Auf Einladung des Direktors Markus Stegmann wird Boller neben den Videokünstlerinnen Jasmin Bigler und Nicole Weibel sowie dem Cartoonist Silvan Wegmann der zweijährigen Umbauphase des Museum Langmatt beiwohnen und diesen Begleitprozess mit einer Kabinettausstellung zur Wiedereröffnung 2026 abschliessen. Zu Gast ist er in der Langmatt schon heute – mit drei über das Erdgeschoss verteilten Interventionen, die sich zur letzten Ausstellung vor der Schliessungszeit zusammenfügen und zugleich den Auftakt von Bollers künstlerischer Auseinandersetzung mit der Sanierung markieren.
Eine Verzahnung, die ein- und aufgreift
Siedelt man den Ursprung von Reto Bollers Kunst in den Randzonen der Malerei an, lässt sich sein dreissigjähriges, seit jeher schwer kategorisierbares Schaffen als immer neue Ausdehnungen dieser Gattungsgrenze skizzieren. Eine der augenscheinlichsten ist der Schritt vom objekthaften Bild zur installativen Anordnung von Farbe, Fläche und Gegenstand im Raum: Unterstützt von Bollers Vorliebe für zweckdienliches Material, spielt die Loslösung vom Bildträger mit der unscharfen Demarkation zwischen Werk und Ausstellungskontext. Neben der Arbeit ‹Funzel›, 2023 – so der mit kosender Abwertung spielende Titel des Kronleuchters im Holzgerüst auf Schaumstoff –, verzahnen sich in der Langmatt auch die weiteren Interventionen mit den Sanierungsplänen des Hauses.
Im Salon sind die leer geräumten Vitrinen, kahlen Tapeten und ausgelegten Vliesbahnen Teil der Arbeit ‹hier›, 2023. Sie läuft von einem markanten wandfüllenden Kreuz aus rotem Klebeband zum abgehängten Vorhang aus, der vor dem Fenster zu einem unscheinbaren Haufen schwerer Seide zusammengefallen ist. Unterdessen ist im Korridor zur Bibliothek ein rechteckiger Wandausschnitt mit schwarzer Farbe besprüht, die in irritierendem Versatz zur vorhandenen Relieftäfelung eine wolkige Fläche bildet. Darauf zeichnet sich mit Buchstaben in gleichem Farbton der Titel dieser dritten Intervention ab: ‹Exit›, 2023, ist just da platziert, wo der Durchbruch für einen Notausgang geplant ist und vor vielen Jahrzehnten bereits eine Tür nach aussen geführt haben soll. Bollers entschlossenes Eingreifen in die Gegebenheiten des Raums ist zugleich ein aufmerksames Aufgreifen von dessen verborgenen Strukturen.
Von formaler Autonomie zu imaginärer Bildergeschichte
Mit dem Ausstellungstitel ‹hier› – er ist dem roten Klebebandkreuz entliehen – will Boller eine «räumliche Zuordnung» aussprechen, die «auf die Unterstützung eines Zeichens angewiesen ist». Ein solches liefert er mehrfach in den Interventionen nach mit Anspielungen auf unkomplizierte Markierungsmethoden für Bauvorhaben – Sprühfarbe, rudimentäre Holzlatten, Ankreuzung. Das Kreuz pocht als Herzstück der Schau in alle zeitlichen Richtungen. Als ambivalentes Symbol bedeutet es sowohl Vorverweis als auch Auslöschung und evoziert im Zusammenspiel mit seinem sanierungsbedürftigen, geschichtsträchtigen Ausstellungsort diffuse Vorstellungen von Zukünftigem und Dagewesenem, ohne sie im Geringsten darzustellen.
So wohnt dem Werk eine imaginäre Bildergeschichte und zugleich eine formale Autonomie inne, die von der unmittelbaren Präsenz seiner Materialität lebt und sich mit den anderen Interventionen in der Langmatt durch malerischen Impuls oder bildkonstitutive Verhandlung in Bollers Gesamtwerk einreiht. Das glänzende, knittrige Klebeband im Salon erweckt den Anschein frischer, pastoser Pinselstriche. Die schwarz gesprühte Wandpartie im Korridor spielt mit augenfälliger Fläche und behaupteter Durchsicht. Und der Kronleuchter im Wohnzimmer ist durch Holzgerüst und Schaumstoffsockel in inen verdichteten, abgehobenen Ausschnitt gesetzt, dessen Begrenzung Boller sogleich wieder auflöst: Das Deckenkabel verbindet nicht nur Aussen- und Innenliegendes, es speist auch die Lichtquelle, die sich über den Rahmen dieses Raums-im-Raum hinwegzusetzen vermag. Sie lässt in ihrer ungewohnt niederen Position die goldenen, schweren Einfassungen der noch hängenden Ölbilder aus dem 19. Jahrhundert funkeln – als ob die zeitgenössische Intervention ihre Vorgänger aus den festen Bildgrenzen locken wolle. Und wer gerne mit Werkinterpretationen über die Stränge schlägt, liest den himmelblauen Schaumstoff unter sandbeigem Gerüst gar als farbliche Umkehrung der ausgestellten Strandansichten Eugène Boudins. Wo dessen Bilder an den traditionellen Verankerungen der Malerei rüttelten, stülpt sie Boller radikal um.
Enggezogene Schlaufen und ausufernde TablettenReto Bollers Arbeiten sind schnörkellos – und lösen dennoch rankende Gedankengänge aus. Von möglichen Abzweigungen geprägt ist auch ihre Genese: Bollers Arbeitsprozesse sind selten geradlinig, er beschreibt sie als ein «Herantasten, das offen ist für Schabernack, Stolpern und Schlaufen», um dann in einer «möglichst direkten Form ihren Abschluss zu finden». Unterschwelliger Humor, zufällig erscheinende Ästhetik und assoziatives Potenzial bleibt den Werken aber erhalten: Die Schlaufen sind quasi zwecks unmittelbarer Lesbarkeit enggezogen und entfalten sich in der Rezeption wieder – vielleicht in ganz neuen Auslegungen.
Auch Bollers jüngstem Kunst-und-Bau-Projekt ging eine lange Ideen- und Formsuche voraus. Für die Firma dsm-firmenich, die ihn nach einem Wettbewerb für ihren neu gestalteten und erweiterten Campus in Kaiseraugst beauftragte, tauchte er ein in die Produktpalette sowie den historischen Standort des Grosskonzerns; in die Synthetik der präventiven Gesundheit sowie die nahegelegenen Ruinen der römischen Rheinthermen. Die Nahrungsmittelindustrie sowie die Kulturgeschichte des Jugendwahns, knallige Vitaminbooster, geräuschlose Nymphen und Lucas Cranach der Ältere fliessen in ‹Fountain of Youth›, 2023, zu einer Aussenskulptur aus neun ellipsoiden Betonvolumen von eineinhalb Metern Durchmesser zusammen, die in der Rasterung einer Tablettenverpackung auf einer ausladenden Farblache angeordnet sind. Laufen diese überdimensionierten leuchtgelben Pillen aus? Oder saugen sie die gleichfarbige Fläche unter ihnen auf?
Das ewige Thema der VergänglichkeitBollers Jungbrunnen verläuft in viele Richtungen, nicht zuletzt weil diese eigenwillige Interpretation es schafft, sowohl auf die Tätigkeit der Auftraggeberin als auch auf diejenige des Künstlers zu verweisen: Die Forschung der Firma sieht Boller im
Aufeinandertreffen der organisch geformten Farbfläche und der Serialität der Volumenkörper gespiegelt, deren «kontrollierte Ausrichtung gleichförmiger Elemente einen Rahmen bildet, der im Kontrast zu der sich innerhalb der Versuchsanordnung selbst organisierenden Fläche» steht. So beschreibt es Boller und könnte damit auch sein eigenes Schaffen meinen.
Wo ‹Fountain of Youth› mit ewiger Frische liebäugelt, scheinen sich Bollers temporäre Interventionen im Museum Langmatt ihrer Sterblichkeit bewusst. Die nebligdunkle Fläche in ‹Exit› spricht kaum von lebensrettendem Ausgang. Am oberen Ende der ‹Funzel› flattert ein zerrissener Stoffbaldachin wie ein letzter Hautfetzen. Und im Raum der Intervention ‹hier› ist die zartrosa Wandverkleidung von einst eingeschlagenen Nägeln durchlöchert. Das verletzte Textil bindet Reto Boller in sein ephemeres Werk ein und stellt mit seiner Kunst auch die Spuren der Zeit aus, bevor die anstehende Bausanierung beides tilgen wird.