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zur Ausstellung

Kunstbulletin: Balanceakt im Unsagbaren

Deborah Keller

Text zur Ausstellung «Einmal täglich», Kunstbulletin Nr. 5, 2019

Der Zürcher Künstler Reto Boller ist bekannt dafür, dass er aus ungewohnten, sperrigen Alltagsmaterialien eindringlich verstörende Objektassemblagen kreiert. Unter dem Titel ‹Einmal täglich› zeigt er in der Galerie Mark Müller neue Werke und erprobt dabei eigenwillige Präsentationsformen.

Wuchtig schlägt uns das Ambiente in der Schau von Reto Boller (*1966, Zürich) bei Mark Müller entgegen: Auf riesigen, hochformatigen Aluminiumtafeln warnt ein Triptychon mit schwarzen, piktogrammähnlichen Formen vor uneindeutigen Gefahren. Feuersbrunst und ein seltsam verstümmelter Baum sind in den aus Leim gegossenen Bildern angedeutet. Am Boden im Zentrum des Raums «schwimmen» derweil auf einem Metallgitter, lose gefasst in einem grobmaschigen Netz, Astabschnitte, versetzt mit Metallteilen und bandagiert wie verletzte Extremitäten. Weiter hinten balanciert ein Paar «erhängter» Kanalhosen auf einem Motorradhelm.

Wer Bollers Arbeit kennt, ist auf solch ungewöhnliche Materialien, die nach Körpereinsatz und Konstruktionstechnik riechen, bereits gefasst. Wer seine Arbeit liebt, freut sich darüber, wie er damit kryptisch zufällig und zugleich selbstverständlich dringlich anmutende Kombinationen erfindet, die ein Assoziationspotenzial nur so weit anbieten, dass es sich einer expliziten Ausformulierung stets entzieht. Nicht selten latent morbid, verweisen sie meist auf Existenzielles. Boller tüftelt im Atelier oft lange, bis er dieses prekäre, aufreibende Gleichgewicht erreicht. Alles, was zu narrativ oder zu ästhetisch «perfekt» ist, wird von ihm, der auch Professor für Malerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart ist, aussortiert.

Mit Malerei im weitesten Sinn hatte er seine Karriere begonnen, die Grenzen des Genres mit «Gemälden» aus Leim, Silikon oder Kunstharz ausgelotet und sie mit Klebefolie räumlich geweitet, bis das Thema erledigt war. Heute beschäftigt ihn anderes, etwa die Frage, wie in einer grossräumigen Situation, wie bei Mark Müller, eine dichte Präsentation eingerichtet werden kann, die jedem Werk doch Eigenständigkeit zuspricht. Boller fand darauf eine eigenwillige Antwort: Eine Wand ist durch kurze, fliegende Trennelemente in Kojen gegliedert, was den darin präsentierten Skulpturen fast exemplarischen Charakter verleiht. Eine Sweatshirt-Jacke etwa, gehalten von zwei Metallstangen, kann für Bollers wiederholte Verwendung von Körpersubstituten stehen. Die Arbeit heisst ‹stage diver›, so ausgewiesen durch schwarze Lettern am Boden – auch das eine ungewohnte Massnahme. Sie lassen den Titel als eine weitere Dimension des Werkes erscheinen.

Die Präsentation als Ganzes wird so auch zur Reflexion über das Ausstellen selbst. Und über all dem lässt Boller in einer überraschend poetischen Geste eine glühende Sonne untergehen. Vielleicht ist es auch ein Blutmond.