zur Ausstellung

Kunst im öffentlichen Raum: Schulhaus am Wasser, Zürich

Elisabeth Grossmann

Einführungsrede vom 10. September 200o

Am Küchentisch sitzend, die Einladungskarte für die heutige Einweihung in der Hand, den Blick auf die fotografische Reproduktion dieses Werkes gerichtet, sagte meine Nachbarin, Architektin von Beruf, vor einigen Tagen einen Satz zu mir, der in seiner unakademisch bildhaften Art die Sache irgendwie im Kern trifft: „Es sieht aus wie ein Alien“ und meinte damit, dass die Form und die Oberfläche und die Farbe und das Setting auf der Wand etwas von dieser Andersartigkeit und Fremdheit an sich haben, wie wir sie von der visuellen Beschreibung der nicht realen Welt, etwa im Science-Fiction-Film, her kennen.

Bereits die ersten Werke von Reto Boller, vorerst bei Mark Müller, später in rascher Folge in Kunsthallen und Museen ausgestellt, lösten einen Überraschungseffekt aus - ein, um beim Jargon zu bleiben - „Hoppla, was ist das?“. Es war im ersten Augenblick klar, dass hier jemand die Kunstszene betrat, der eine sehr spezifische Idee von Malerei hatte und alle die Fragen, die mit diesem Medium zu tun haben, genau reflektierte.
Dass Reto Boller für die aktuelle Ausstellung im Kunsthaus Aarau „Das Gedächtnis der Malerei“, in der die Frage, was Malerei im 20. Jhr. war, ist und wohin sie sich fortbewegt, eingeladen wurde, erscheint damit nur logisch. Das Feld der Malerei, zeigt die Ausstellung, wurde und wird stetig neu gesteckt und der frühere Rahmen des klassischen Tafelbildes ist inzwischen gesprengt.
Doch mag ein Grundsatz für die Künstlergeneration von Reto Boller auch weiterhin verbindlich sein. Wenn wir das Theorem des „Radical Painting“ heranziehen, ohne es in der gewohnt dogmatischen Einengung zu verwenden, so könnte man sagen, dass Reto Bollers hauptsächliches Interesse auf den Grundlagen von „Colour“ (Farbe) - „Paint“ (Farbmaterie) und „Surface“ (Oberfläche) beruht und darauf gerichtet ist, diese Elemente in einer Art und Weise aufeinander zu beziehen, die jegliche Übereinkunft sprengt.
Anstelle von Öl und Leinwand, wie die Tradition der Malerei vorgibt, entwickelt er neuartige Verfahren, kombiniert unterschiedliche Materialien und gelangt durch Experiment und Intuition (und die inzwischen reiche Erfahrung) zu der provozierenden, Augen und Tastsinn aktivierenden Bildästhetik, die für sein Werk kennzeichnend ist. Dass er in seinen Arbeiten auf inhaltliche Titel verzichtet und stattdessen ausschließlich die materiellen Fakten auflistet, ist dabei symptomatisch. Überschriften wie „Acryl, Leim, Holz, Silikon“ benennen einerseits, woraus die Werke gefertigt sind, aus (in hierarchischen Kategorien gedacht) unspektakulären, billigen Materialien aus dem Baubedarf und verweigern anderseits jegliche sprachliche Beihilfe, die ermöglichen würde, sei es auf die Intention des Künstlers, sei es auf die reale Werkgestalt zu folgern. Der Betrachter ist auf die augenblickliche Konfrontation mit dem Werk angewiesen und darauf, ohne Vorgabe von Inhalten, sich allein mit dessen Artikulation auseinanderzusetzen. Er hat es ganz augenscheinlich mit bildnerischen Fakten wie Farbe, Farbmaterie, Form, Textur und Volumen zu tun, mit etwas, das sich
erklärtermaßen in den Kunstbegriff einfügt und doch irgendwie ungewohnt, fremd und andersartig bleibt. Die ambivalente Empfindung erklärt sich daraus, dass Bollers Arbeit zwar durchwegs ungegenständlich ist, zwischen der Neuen Geometrie und der Abstraktion situiert, zugleich aber, ohne diese tatsächlich zu repräsentieren, die Dingwelt miteinbezieht.

Reto Bollers Werke, schreibt Daniel Kurjakovic im „Cahier d'artiste“ von 1998, „deuten die Objektwelt an, mag sie noch so potentiell und fragmentär sein, die in der individuellen Betrachtung durch Erfahrungen und Erinnerungen aktiviert wird. Ist da nicht ein Hügel zu sehen, dort ein Gitter, ein Fenster, eine Wiese, ein Kanalsystem, Wellen,... ein Fleck oder eine Wolke?“ So wird in Bollers Werk die reale Welt als eigentlich lebendige, kollektive und und individuelle Erfahrungswelt in die Kunstform transponiert, wo sie als Nachhall nachklingt.
Diese ambivalente Schnittstelle zwischen Kunst- und Alltagswirklichkeit, Gegenstandslosigkeit und Gegenstandsnachhall markiert auch eben dieses „Alien“, diese Wandarbeit, die Reto Boller für das Schulhaus von Weber und Hofer vorgenommen hat.
Auch wenn das Projekt sein erstes im Bereich von Kunst und Architektur ist, so kamen ihm, wie die Lösung beweist, seine Ausstellungserfahrungen mit raumbezogenen Präsentationen und situativen Eingriffen zu Hilfe. Erst sie ermöglichten ihm, Kriterien zu finden, die einerseits seinen künstlerischen Intentionen entsprechen, anderseits ebenso innerhalb der Baugestaltung als auch im Schulalltag funktionieren. Es waren drei Aspekte, auf die sich Reto Bollers Kriterienkatalog richtete:
- die Arbeit muss sich selbstverständlich darstellen
- sie muss ortsbezogen sein, d. h. mit dem Raum interagieren
- sie muss autonom sein, d. h. nicht Teil der Architektur, sondern sich als eigenständige Form behaupten.
Als Standort bot sich die große Wand im Treppenhaus an, weil sich hier die für die Wahrnehmung seiner Arbeiten wesentlichen Faktoren wie Licht, Farbe, Volumen und Raum integrieren ließen. Es ist eine Wand, die ebenso Tageslicht (Streiflicht) als indirektes Licht (diffuses Licht) erhält und einer ständigen Veränderung der Lichtverhältnisse (Wetterlage,Tageszeit, Jahreszeit) ausgesetzt ist. Sie ist Teil des Treppenhauses, das nicht für das Verweilen an Ort, sondern für das zirkuläre Sichbewegen im Raum angelegt ist. Sie nimmt einen einmaligen Platz ein, indem sie sich über zwei Geschosse erstreckt und, wenn auch zum Teil nur ausschnitthaft, von verschiedenen Blickwinkeln aus sichtbar ist. Als Vorgabe waren der Werkstoff der Wandfläche (Beton) und die Einfärbung der langen Korridorwand im ersten Stock (ein cremiger Rotton) in die Konzeption miteinzubeziehen.

Reto Boller, bereits seit längerem mit der „Malerei im erweiterten Raum“ oder anders gesagt mit dem „Painting in the expanded field“ beschäftigt, verwirklichte ein Wandobjekt, dessen Oberflächenfärbung, -gestaltung und Form die spürbare Differenz zur Architektur markiert, die es als etwas Andersbeschaffenes von der minimalisierten, trockenen Architektur abhebt. Ungegenständlich, aber gegenstandserinnernd entspricht es der Bildform, die sein bisheriges Werk bestimmt, noch fremdartiger vielleicht, weil es sich nicht im Kunstkontext (einem Ausstellungsraum), sondern inmitten der täglichen Erfahrungswelt findet.

Hier klebt es nun, dieses „Alien“, ein kostbar schimmerndes, Licht reflektierendes, polyphones Perlmuttgewächs, ein Organon unbekannter Herkunft, wie aus fernen Gewässern angeschwemmt. Es nimmt in keiner Weise Teil an den Turbulenzen, die rundherum im Hause stattfinden - weder am Bewegungschaos, noch am Stimmengewirr - sondern behauptet sich inmitten dieser Normalität durch seine fremde und gleichzeitig selbstverständliche Präsenz. Es hat nichts Anbiederndes, versucht nicht, kindlich zu tun, noch irgendwie vorzugeben, mit dem Schulalltag etwas gemein zu haben. Es lebt geradeaus der Differenz: der Struktur der geregelten Schulzeit hält es seine eigene Bildzeit entgegen, der rektangulären Architektur seine zarte Wölbung, der Schlichtheit der Baustoffe seine schimmernde Materialität, dem Schulhausgetümmel seine Sanftheit und Stille. Es ist - wie sich der Künstler vorgenommen hatte - a) selbstverständlich, d.h. unspektakulär, b) ortsbezogen und interagierend und c) es ist autonom. Damit wären die drei Kriterien von Reto Boller eigentlich erfüllt. Darüber hinaus besitzt es jedoch eine ästhetische Qualität, um nicht zu sagen, eine Anmutung, die sich der sprachlichen Beschreibung entzieht. Sagen wir es einfach kurz: es ist eine souveräne Lösung und die Bereitschaft zum Experiment vonseiten des Baugremiums als auch des Künstlers hat sich mehr als gelohnt.