Kunst im öffentlichen Raum: Karlsruher Instut für Technologie, Institut für Nanotechnologie
Martin Seidel
Beitrag in der Publikation Kunst am Bau - Projekte des Bundes 2006 - 2013
Am Institut für Nanotechnologie am Karlsruher Institut für Technologie forschen Biologen, Chemiker, Physiker und Materialwissenschaftler interdisziplinär in ausgewählten Bereichen dieser Schlüsseltechnologie, die eine Vielzahl neuer Produkte und gravierende Produktverbesserungen verspricht. Das Institut mit etwa 200 Mitarbeitern wurde 1998 als Gemeinschaftsprojekt des Forschungszentrums Karlsruhe und der Universitäten von Karlsruhe und Straßburg ins Leben gerufen. Der Institutsneubau entstand zwischen 2003 und 2008 nach Entwurf der Stuttgarter Planungsgesellschaft HWP. Eine großflächig verglaste Eingangshalle verbindet einen viergeschossigen Riegel mit Büros auf der Nordseite und ein dreigeschossiges Laborgebäude für die mikro- und nanotechnologische Grundlagenforschung mit einem Innenhof im Süden. Die Halle mit einem bis zum Dach reichenden Luftraum dient als Kommunikationsstätte und zeichnet sich durch die Transparenz ihrer Begegnungs-, Besprechungs- und Präsentationsräume, durch die durchbrochene Stapelung der Ebenen und die abwechslungsreich geschwungenen Laufstege aus.
Die Funktionen der drei Gebäudeteile und die jeweiligen architektonischen Gegebenheiten legten von vornherein die Eingangshalle als Standort der Kunst am Bau nahe - wobei dort aus technischen Gründen das Folienkissendach und die Wandflächen ausgenommen, prinzipiell aber auch weniger favorisierte Standorte wie etwa der Außenraum im Bereich des Haupteingangs zugelassen waren.Die sechs Konkurrenten des nichtoffenen Kunst-am-Bau-Wettbewerbs, der übrigens auch Möblierungen und Gestaltungen mit Pflanzen erlaubte, entschieden sich alle für die Eingangshalle, das Kommunikationszentrum des Instituts. So auch die Schweizer Künstler Reto Boller und Guido Vorburger, die mit einem gemeinsamen Entwurf den Wettbewerb gewannen.
Reto Boller (Jahrgang 1966), der sich in seinem Werk mit Traditionen der Malerei und in öffentlichen Projekten mit dem Verhältnis zwischen Kunst und Architektur auseinandersetzt, und Guido Vorburger (Jahrgang 1961) haben für das Karlsruher Institut für Nanotechnologie die Arbeit „Ariadnefaden“ entworfen - eine über neun Meter lange und bis zu 1,3 Meter breite 300 Kilogramm wiegende Hängeplastik aus schwarz beschichtetem Polyurethanschaum. Die den Luftraum des Foyers vertikal durchmessende Plastik, deren Gestalt bei der Herstellung nicht exakt vorhersehbar war, gelangte 2008 in der Kunstgießerei St. Gallen zur Ausführung. Die Gussformen wurden mit Heißdrahtschlaufen in Styropor geschnitten und mit Polyurethan ausgeschäumt, anschließend die jeweils halbierten drei Teilstücke zusammengesetzt und schließlich mit einem Stahlseil an einem Haken an der Decke der Halle befestigt.
Der „Ariadnefaden“ ist in Erscheinung und Bedeutung komplex und fordert die Sinne und den Geist gleichermaßen. Die pralle Form und das Material möchte man „erleben“ und schon deshalb ertasten, weil man ja nur vermuten, aber nicht wissen kann, dass das Gebilde bei einer gewissen Elastizität fest und schwer ist. In der immensen Vergrößerung verlieren alle Bezüge zu einem Faden oder Seil zunächst einmal an Stringenz. Wichtig ist stattdessen der formale Aspekt: die von verschiedenen Ebenen aus sehr schön und immer wieder anders anzusehende Präsenz und stabilisierende und dynamisierende Dominanz der Plastik im Luftraum, der von den geschwungenen Gängen des offenen Treppenhauses lebhaft umkurvt wird.
Insbesondere gefällt der Ausdruck pendelnder Energie und Kraft. Der ist weniger der Fiktion und dem Gedanken an einen lose und unbeschwert von der Decke herabhängenden Faden zu verdanken als vielmehr der Aura der annähernd abstrakten klöppelähnlichen Form. Das Ausfasern von Fäden, das sich bei entsprechenden mikroskopischen Vergrößerungen zeigen würde, verschwindet hier vollständig unter der Schlieren bildenden Oberfläche. Das vereinheitlichende Schwarz scheint die Plastik zu versiegeln und sie undurchlässig, widerstandsfähig und langlebig zu machen. Der Eindruck physischer Stärke und extremer Belastbarkeit wird gesteigert durch die drei Knoten. Denn das Verknoten eines Taus zu einer engen Schlaufe wäre ein nicht unerheblicher Kraftakt.
Der Standort, das Institut für Nanotechnologie, bildet im assoziativen Querverweis auf die vielfältig praktisch eingesetzten Nanofäden einen passenden gedanklichen Rahmen für die Kunst. Hinzu kommen mythologische Anklänge. Der Titel „Ariadnefaden“ thematisiert den Faden als Mittel, sich aus Labyrinthen und anderen „Unübersichtlichkeiten" zu retten. Auch der Bezug zum Gordischen Knoten ist gegeben - und zwar in dessen semantischer Doppelrolle: Sowohl die Bedeutung als untrennbare Verbindung als auch die der sprichwörtlichen Herausforderung, durch Geschicklichkeit, Kraft und Intelligenz kaum lösbare Aufgaben zu bewältigen, lässt sich im emblematischen Sinn und als Appell auf die Aufgaben und Ansprüche des Forschungsinstituts übertragen.
Noch eine andere Analogie drängt sich auf: So wie der Faden der griechischen Mythologie ein überlebenswichtiges Geschenk der Prinzessin Ariadne an Theseus war, so kann man Reto Bollers und Guido Vorburgers „Ariadnefaden“ als Geschenk der Kunst an die Wissenschaft begreifen, deren Erfolge ja nicht nur vom Einsatz der logischen und pragmatischen, sondern auch einer sinnen- basierten und experimentierfreudigen Intelligenz abhängen.