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gymball stunt

Markus Stegmann

Text zur Ausstellung in der Galerie Mueller-Roth, Stuttgart

Mit gesenkten Köpfen hängen sie nebeneinander gereiht an der Wand. Motorradfahrer oder Stuntmen, Demonstranten oder Märtyrer? Nur dass die Köpfe keine Köpfe sind, und sie nicht hängen, sondern kleben. Am Boden vor der Gruppe ein mattenartiges Kissen, unterteilt mit grossen Knöpfen: ein Kissensegment für jede Figur, ein Grab für alle. Ein Denkmal für verunglückte Motorradfahrer? Eine neue Sportart, eine Spezialdisziplin für Stuntmen? Der Titel gymball stunt könnte immerhin darauf verweisen.

So materialistisch die Motorradhelme, so seltsam sakral die Ausstrahlung der schwebenden Gruppe an der Wand, aufgereiht wie Epitaphe in einer mittelalterlichen Kirche. Woher rührt diese andächtige Atmosphäre? Warum vertreiben die Helme nicht diese ihnen denkbar entgegengesetzte Stimmung, martialisch finster, wie sie mit ihren schwarz verdunkelten Visieren dreinblicken? Ihre auffällig gesenkte – oder sollte man besser sagen geknickte? – Kopfhaltung ist ein entscheidendes Element. Dadurch erscheinen sie nicht nur nachdenklich, sondern geradezu gebrochen, verstummt, womöglich verstorben. Blickten sie uns Aug in Auge aufrecht entgegen, wäre nichts davon zu spüren, im Gegenteil: Geradeaus gerichtete Helme mit spiegelnden Visieren würden stolzes Draufgängertum signalisieren, Machismus, Aggression und Gewalt sogar. Wer sagt uns denn, wer sich hinter den Motorradhelmen tatsächlich verbirgt? Reto Boller gelingt ein differenziertes Versteckspiel. Es könnten genauso gut gewalttätige Demonstranten sein, wie sie in den Medien für emotional aufgeladene Bilder sorgen. Ob berechtigerweise politisch motiviert oder dumpf dreinschlagend. Oder sind es Helden in einem actionreichen Streifen? Islamische Märtyrer in typischen Gewändern? So erschlafft, wie sie hängen, scheint es, als sei ihr Genick gebrochen, als habe man sie an einen Haken gehängt, um sie ausbluten zu lassen wie erlegtes Wild oder Schlachtvieh. Schluss mit lustig, aus das Rennen, Ende der Vorstellung.

Und dünn, allzu dünn ist ihr Gewand. Aber noch nicht einmal von einem solchen kann man sprechen, geschweige denn von Körpern. Rote Folien, aus verschiedenen Teilen geschnitten, rufen den Eindruck langer, gewandartiger Silhouetten hervor, als stünde ein Tanztheater bevor, eine geheimnisvolle Verwandlung, wundersame Mutation. Oder wird gefallener Märtyrer in Form spontaner Wandmalerei gedacht? Reto Boller hätte die Silhouetten leicht aus einem einzigen Stück Folie schneiden können, dann wäre der Eindruck von Kleidung perfekter. So aber tragen die Behelmten ein „Flickwerk“ auf ihrem unsichtbaren Leib: Ein perfekter, illusionistischer Eindruck steht nicht ansatzweise zur Diskussion. Spätestens aus der Nahsicht wandelt sich die figurative Silhouette in grob zusammengeklebtes, billiges Material.

Immerhin finden die Figuren vor sich ein grosses, stabiles Kissen, das sich eher als druckableitende, sportive Matte, denn als gemütliches Kuschelkissen präsentiert. Die Vorstellung liegt nahe, dass die vier Geklebten plötzlich fallen, dass sie – ob willentlich oder nicht – zu Boden gehen könnten. Viele Ursachen wären hierfür denkbar, doch immerhin stünde fest, dass sie nicht auf dem blanken Boden aufschlagen müssten, sondern stattdessen in das Weiss der Unschuld fallen dürften, ohne Verletzungen zu befürchten, ohne ernsthafte wenigstens.
Reto Boller stellt mit gymball stunt dem interessierten Publikum wieder einmal eine liebenswerte, wenngleich verfängliche Falle. Eine Falle, in die sich Denken, Vermuten und Vorstellen zwar heftig verheddern können, die aber gerade dadurch die persönliche Empfindungskraft erfrischend stärkt. In dem Masse, in dem verschiedenste Entzifferungsmöglichkeiten des Gebildes erprobt werden, beginnen diese unvermittelt miteinander zu kommunizieren, finden sich die verschiedenen Lesarten in wechselseitige, mitunter paradoxe Bezüge versetzt. Gewaltbereite Motorradfahrer treffen unversehens auf sakrale Epitaphe. Das weisse Kissen der Unschuld rechnet unsinnigerweise mit dem Fall an der Wand klebender Folie, so leichtgewichtig sie sein mag. Das Denkmal für unbekannte Märtyrer macht sich frei vom Erinnern, um eine Sportart zu testen, die es vielleicht noch gar nicht gibt oder die sich als unbekannte Spezialdisziplin für Stuntmen verselbständigt haben mag. Und was ergibt sich aus den unvermuteten Begegnungen, aus den sich begegnenden Vermutungen? Eine babylonische Sprachverwirrung? Im Gegenteil: Reto Boller zeigt mit einfachen, alltäglichen Materialien, wie denkbar unterschiedliche Bilder sich unerwartet verständigen, nicht ohne paradoxe Überraschung und subtilen Humor. Wie weit liegen sie wirklich auseinander, Märtyrer und Stuntmen, Motorradfahrer unserer Zeit und Epitaphe des Mittelalters?