Der Landbote: Im Körperinnern der Bilder
Sabine Arlitt
Winterthurer Zeitung «Der Landbote» vom 17. Juni 2005, Ausstellungsbesprechung
Wenn der Zürcher Künstler Reto Boller Malerei befragt, legt er Wege ins Bild und aus dem Bild frei. Seine stimmungsvolle Ausstellung in der Kunsthalle Winterthur ist von einer dichten Leichtigkeit.
Reto Boller (* 1966) verwebt zarte und kraftvolle Farbklänge mit ruppig-rohen und schwebend-leichten Formsetzungen zu einer orchestralen Raumbespielung. Das Licht bestimmt die Bildmelodie, die auch Momente der Stille und solche von dumpfer Benommenheit wie brodelnder Aktivität kennt. Ganz unterschiedlich temperiert sind die beiden Räume der Kunsthalle Winterthur, was gleichzeitig unterschiedliche Stimmungen evoziert. Bei Bollers betont körperbezogenen und emotional aufgeladenen Arbeiten lenken bereits die Angaben von Höhe und Breite die Gedanken in Bereiche unfassbarer Farbraumausdehnung. So ist über grosse Teile der hohen Längswand im ersten Raum der Kunsthalle eine orangefarbene Folie selbsthaftend geklebt. Sie setzt mit ihren Massen von 11 auf 7,6 Meter mit einem geringen Abstand zur Deckenwölbung an und zieht sich darauf, an der Wand haftend, nach unten und weiter über den Boden, bis sie mit dem für eine Umgehung notwendigen Abstand zur gegenüberliegenden Seite zum Stillstand kommt.
Das Spiel der Reflexionen
Entscheidend für den unauslotbar in Bewegung geratenen Raumeindruck ist eine leicht
schräg an die Wand gelehnte, dünne Holzwand, über die sich die orangefarbene
Klebefolie von der statischen Wand weg in den Raum zieht, um dabei gleichzeitig dem
angelehnten Wandelement, in Umkehrung der normalen Verhältnisse, Halt zu gewähren.
Wie ein Farbfluss scheint sich die Folie in den Raum zu ergiessen, wobei sich in
einzelnen schmalen Absätzen das Licht bricht und eine Lichtspur zurücklässt. Die ganze
Folie, die auch die kleinsten Unregelmässigkeiten der Wand und des Bodens sichtbar
macht, löst ein fein moduliertes Reflexionsspiel aus. Reine Farbreflexionen schieben sich
wie feiner Pigmentstaub in Ritze und lagern sich auf architektonischen Zierelementen
ab.
Eine im gleichen Raum hängende rosafarbene, dumpf, ja dumpfig wirkende
Arbeit wird von diesem Raumlicht überstrahlt, eingenommen, aber auch aktivierend
belebt. An schimmelartige Auswüchse lassen die latent wuchernden Rundkörper aus
Silikon denken, die sich unter der nun rosa-orange erscheinenden, gegossenen Farbhaut
bemerkbar machen.
Bollers Bildfindungsstrategien weisen eine hintergründige und untergründige
Verwandtschaft mit organischen Prozessen und elektrophysiologischen Erscheinungen
auf. Aktiv wie ein Vulkan, im eingefrorenen Zustand verharrend oder eingebunden in ein
Beziehungsfeld von Abstossung und Anziehung könnten sprachliche Beschreibungsversuche lauten, um sich den nie wirklich auszudeutenden Arbeiten zu nähern. Zwischen Verfestigung und Auflösung ist das Bildpotenzial anzusiedeln, das im Grunde keine Unterscheidung zwischen abstrakten Formen und gegenständlichen Anklängen mehr kennt. Silikon, Holz, Leim, Acryl und Aluminium heissen Bollers bevorzugte (industrielle) Materialien, die in ihrem Gebrauch auf eine unabgeschlossene Veränderbarkeit hinweisen. Die Bilder scheinen zu schaffen, zu atmen, sich zu bewegen. Sie scheinen Konstellationen auszuprobieren, statt fixe Kompositionen anzustreben. Zwei- und Dreidimensionalität verschleifen sich, um einer mehr spürbaren denn erklärbaren Gedehntheit Raum zu geben.
Relief in Bewegung
In einer Arbeit mit zwei auch physisch voneinander abgesetzten Weisstönungen
wechseln die Dimensionen radikal ihre Ausrichtung. Mal glaubt man eine zeichnerische
Struktur wahrzunehmen, dann wiederum scheinen die aufgesetzten, unregelmässigen
Farbkörper geradezu in die Fläche einzudringen, um gleich darauf mit einer
objekthaften, ungeschönten Präsenz ihr Volumen auszuspielen. Das Bildobjekt gleicht
einem in Bewegung geratenen Relief, worin sich Aussen- und Binnenformen
scherenschnittartig vernetzen und sich jenseits optischer Grenzlinien neue
Modellierungen abspielen. Dann wiederum lässt einen Boller durch einen Schlitz eine
Bildrückseite erkunden. Er stellt einen als Betrachter in ein Raumbild, und er lässt, was
in einer Art Zwischenreich unsichtbar bleibt, als Rätsel bestehen, und zwar gerade
dadurch, dass er Zwischenräume mittels Farbschatten ausleuchtet.