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zur Ausstellung

Der Abgrund der Schönheit ist tief. Reto Bollers temporäre Malerei mit Folie

Daniela Hardmeier

Katalogbeitrag zur Ausstellung «Aufsetzpunkt», Kunstzeughaus Rapperswil-Jona

Wie ein Meer aus dichter, satter Farbe breiten sich die Folienbahnen aus, ergiessen sich über Wände und Böden, nehmen den Raum in Beschlag, machen ihn zum Bildgrund für ein Werk, dessen Ausdehnung zwar durch die Länge und Breite der Bahnen definiert ist, die jedoch nicht mehr genau eingrenz- und fassbar ist. Hört die Fläche wirklich an den Rändern auf? Greift die Farbe nicht vielmehr weiter, nimmt auch den Luftraum, den Umraum, die anwesenden Werke, gar die Besucher in Beschlag und taucht sie in eine Farbigkeit, die sich wie eine grosse Stille über alles legt und uns einhüllt, eintauchen lässt in eine Tiefe, deren Grund wir nicht kennen und von der wir auch nicht wissen, wie wir uns wieder befreien können? Dabei stehen wir ja abseits, die eigentliche Fläche bleibt unserem Zutritt verwehrt, drängt uns zur Seite, Näherkommen und physisches Eintreten ist nicht erwünscht und nicht möglich.

„Aufsetzpunkt“ betitelt Reto Boller seine Einzelausstellung im Kunst(Zeug)Haus in Rapperswil-Jona; ein Titel, der Assoziationen weckt und doch auch einen ganz realen Hintergrund hat(1). „Aufsetzpunkt“ könnte konkret einen präzisen Punkt in der Ausstellung meinen, an dem die Perzeption(2) des Betrachters beginnt und die Rezeption der einzelnen Arbeiten ihren Anfang nimmt; mit grosser Wahrscheinlichkeit wird dies die starkfarbene Fläche sein, die sich über einen weiten Teil des Raumes hinzieht, ausgehend von einer Wand, wie eine Woge endend an der Bibliothek und auslaufend im hinteren Bereich des Ausstellungsraumes. Mit grosser Wucht trifft sie auf die Sinnesorgane der Besucher, dominant behauptet sie ihren Raum, nimmt die Architektur in ihren Dienst, taucht alles, auch die umgebenden Arbeiten in ihre Farbigkeit und ist doch gleichzeitig auch Fläche für die Werke der Ausstellung, eigenständige Arbeit und Resonanzraum in einem. Um eine solche, per se emotionslose, gleichmässige Fläche zu erreichen greift der Künstler zur industriell gefertigten Folie, die im Gegensatz zum direkten Farbauftrag keine Handschriften erkennen lässt. Offen bleibt letztlich die Frage, welchen Zweck sie erfüllt. Könnte sie eine Art Markierung im Raum sein, der eine Zone kennzeichnet mit spezifischen Eigenschaften? Diese Ungeklärtheit, die Andeutung eines vermeintlichen Zweckes, findet sich ebenso in den neueren Bildobjekten.(3) 

Das Arbeiten mit farbiger Industriefolie bezeichnet einen Bereich des künstlerischen Schaffens von Reto Boller, deren Funktion und Ausprägung sich in den letzten rund 10 Jahren stark verändert hat. Erstmals realisierte er 2001 eine temporäre Malerei in der Gruppenausstellung „Die Pracht erwacht – Beobachtungen zur Malerei“ im Museum zu Allerheiligen Schaffhausen.(4) An prominenter Stelle im Ausstellungsraum breitete sich eine intensiv gelbe, amorphe Form von der Wand ausgehend über den Boden aus und erinnerte an einen Kübel Farbe, der ausgeleert wurde (Abb. 1). Reto Boller wurde in dieser Ausstellung als ein Vertreter einer neuen Malergeneration gezeigt, deren Zugang zur Malerei weniger über die klassische Auseinandersetzung mit dem Tafelbild und seiner Erweiterbarkeit läuft, sondern sich vielmehr aus der Wahrnehmung der neuen Medien ableiten lässt. Die Wand und der Boden sind nicht einfach nur Träger des Bildes, vielmehr wird der Raum selbst um eine visuelle Fortführung der Malerei erweitert. 
Die ersten Folienarbeiten von Reto Boller bewahren noch einen Verweis auf klassische Tafelbilder, indem ihre Form eine klar begrenzte bleibt, die als autonomes Werk im Raum auf einer Wand und/oder dem Boden platziert wird und somit an keinen spezifischen Ort gebunden ist. In der Folge sprengt der Künstler jedoch diesen Rahmen mit Nachdruck, indem das Verhältnis von Werk und Raum zueinander komplexer wird. Zentrales Werk in seiner Einzelausstellung im Museum zu Allerheiligen(5) (Abb. 2) ist eine Arbeit mit Teppichbahnen, die sich über den gesamten Boden des Ausstellungsraumes ausbreitet; lediglich in unregelmässigen Abständen sind Bahnen herausgeschnitten und aufgerollt worden. Das Werk ist nicht mehr vom Raum zu trennen, seine Farbigkeit taucht nicht nur die Wände, vielmehr auch die farbentleerten Arbeiten(6) an der Wand in einen blauen Grundton, die Teppichbahnen sind so gleichzeitig eigenständiges Werk wie auch bestimmender Teil der Ausstellungssituation und der Gestimmtheit des Raumes, da sie ihn nicht mehr nur partiell, sondern in seiner Gesamtheit einnehmen.

Der Eingriff in den Raum und die Neudefinition des jeweiligen Raumes sind zentrale Eigenschaften der Folienarbeiten von Reto Boller. Diese verändern nicht nur die Wahrnehmung von Architektur, Ausdehnung oder Merkmalen dieser Räume, vielmehr akzentuieren sie diese auch, bilden über die dünne Membran der Folie die Beschaffenheit von Böden und Wänden ab, zeigen Strukturen und Unregelmässigkeiten, Kanten und Ecken. Im Fall der temporären Malerei in der Kunsthalle Winterthur (Abb. 3) hat der Künstler gar die Grundstruktur verändert, indem er mit einer vorgestellten Wand den einen Durchgang in den nächsten Raum verschloss. Mit diesem Eingriff wird der Weg des Besuchers, der ohnehin durch die sich fast über den gesamten Boden ausbreitende Farbfläche eingeschränkt ist, zusätzlich verändert.(7) Die Raumerfahrung von Reto Bollers Werken ist durch sich widersprechende Wirkungen bestimmt. Die überdimensionalen Farbflächen sind raumgreifend und nicht auf einen Blick erfassbar, der Betrachter wird von ihnen umschlossen und umfangen, er ist in die Farbigkeit mit eingetaucht und wird vom Werk vereinnahmt. Die kräftige Farbe ist ein starker Reiz für die Sinnesorgane, man meint diese beinahe physisch zu spüren. Gleichzeitig haben die Werke aber auch etwas Immaterielles, Flüchtiges an sich. Sie verändern sich je nach Lichtsituation und über die Zeit, es gibt keinen eindeutigen, immerwährenden Zustand mehr, der in der Endlichkeit des Bestehens kulminiert.(8) Es stellen sich zudem Fragen nach der Flächigkeit und der Tiefe dieser Malereien, wobei es sich hier um eine Kernfrage der Malerei seit ihren Anfängen handelt. Nicht über das Dargestellte oder die Materialität, vielmehr über das Immaterielle der Farbe und des Lichts vermitteln Reto Bollers Folienarbeiten eine ungemeine Tiefe. Man könnte sie mit den Neonröhren-Arbeiten von Dan Flavin vergleichen, da sie in ähnlicher Art die Malerei entmaterialisieren und als flüchtig expansives Medium nutzen.(9) Tiefe und Körperlichkeit erhalten sie aber auch über die Art des Klebens der Folie. In der Kunsthalle Winterthur wurde diese am Übergang von Boden zu Holzplatte und von dieser zur Wand so geklebt, dass sich ein schmaler Raum bildet, die Folie liegt hier nicht bündig auf. An diesen Rand- und Übergangszonen wird die Folie nie geschnitten, denn nur so entsteht der Eindruck einer Haut, die sich über den Untergrund legt, ihn abzeichnet und hervorhebt. Durch diese präzisen Setzungen holt der Künstler das Werk aus der Ebene, erweitert es in den Raum und lässt es zudem freier fliessen. 

Mit dem verstärkten Aufgreifen des Raums in den Folienmalereien verändert sich auch ihre Gestalt. Reto Boller durchbricht zunehmend die in sich geschlossene Form in dem Sinn, dass die Breite der Folienbahnen und ihr Auslaufen an der Wand und am Boden zentral werden und in Korrelation stehen zum Prozess des Anbringens (z.B. in der Arbeit im Fri-Art, Centre d'Art Contemporain in Fribourg, 2006, Abb. 4), so dass Beginn und Ende der Bahnen nicht mehr eine saubere Linie bilden, sondern vielmehr durch den gemachten Schnitt mitbestimmt werden. Der Künstler gibt eine Mindestmarke vor, bis zu der die Folie gelangen muss und akzeptiert damit den Zufall des genauen Schnittpunktes. Die Idee, dass nicht alles kontrolliert werden kann, dass der Zufall ernst genommen wird, findet sich im gesamten Werk des Künstlers. Damit einher geht ein verstärktes Eindringen des Realen in die Arbeiten. Die Bildobjekte erhalten kantigere Formen, Material wie Holz oder Aluminium bleiben vermehrt sichtbar und reale Gegenstände wie ein Motorradhelm, Tragriemen oder Klemmzwingen werden integriert. Die Wirklichkeit ist nicht nur Ausgangs- und Referenzpunkt für das Schaffen von Reto Boller, die Werke geben nicht mehr vor, einen (wie auch immer gestalteten) virtuellen malerischen Raum zu erzeugen, sondern sie stehen in einer permanenten Austauschbeziehung mit der Lebenswirklichkeit. Für die Folienarbeiten heisst dies, dass sie durch das Aufnehmen und Einnehmen des Raumes zu Projektionsflächen und Bruchstücken eben dieser Wirklichkeit werden, in der innen und aussen nicht mehr klar unterscheidbar ist, sie folglich nicht jenseits der Realität, sonder ein Teil von dieser sind. 

Reto Boller operiert in seinem Schaffen oft mit komplementären und sich widersprechenden Eigenschaften wie physisch präsent und ephemer, glatt und abgerissen, flach und tief oder makellos und rau. Der Künstler schafft mit industriell gefertigter Folie entgrenzte Malereien, die zudem an einer scharfen Kante des Begriffs von Schönheit operieren. Als Konzept lange Zeit vehement gemieden, ist die Schönheit in den letzten Jahren zusehends wieder ein Thema in der bildenden Kunst, das jedoch nicht mehr kritiklos gezeigt wird, sondern vielmehr unsere aktuelle Lebensrealität reflektiert, die keine ungebrochene ist. 

Fussnoten
(1) Mit „Aufsetzpunkt“ wird in der Luftfahrt die Stelle bezeichnet, an der das Flugzeug bei der Landung mit dem Hauptfahrwerk auf der Landebahn aufsetzt. Von diesem Punkt aus bis zum Aufsetzen der Vorderräder entsteht auf der Landebahn eine durch den Gummiabrieb der Räder verursachte schwarze Spur, die in ihrer Summe als Fläche durchaus malerische Qualitäten aufweisen kann. 

(2) Es wird bewusst dieser Begriff gewählt, da Perzeption die Gesamtheit der Vorgänge des Wahrnehmens bezeichnet. Diese umfasst neben den Vorgängen des Auffassens, Erkennens und Beurteilens auch unbewusste und emotionale Vorgänge des Empfindens. Gerade diese Gesamtheit scheint mir wichtig in der Konfrontation mit den raumgreifenden Malereien von Reto Boller. 

(3) Invar-Torre Hollaus beleuchtet diesen Aspekt der Bildobjekte ausführlich in seinem Textbeitrag. 

(4) Vgl. den Text von Markus Stegmann, in Die Pracht erwacht – Beobachtungen zur Malerei, Museum zu Allerheiligen Schaffhausen, Verlag für moderne Kunst Nürnberg 2001, S. 

(5) Vgl. Reto Boller, Ausstellungskatalog Museum zu Allerheiligen Schaffhausen, Hrsg. Markus Stegmann, Verlag für moderne Kunst Nürnberg, 2003. 

(6) Dieses Entleeren der Farbe bei den Bildobjekten tritt zunächst in den Hintergrund, nimmt Reto Boller jedoch verstärkt seit rund drei Jahren wieder auf. 

(7) Reto Boller fordert den Betrachter nicht nur visuell heraus, vielmehr zwingt er diesen auch, gewohnte Wege im Ausstellungsraum zu verlassen, da die Folien nicht betreten werden dürfen. Der Besucher muss sich so in Randzonen und auf Nebenwegen bewegen und erlebt auch dadurch den Raum in neuer Sichtweise. 

(8) Am Ende jeder Ausstellung wird die Folienmalerei entfernt und das Werk somit zerstört. Es bleibt einzig die Raumerfahrung, die auch bei wiederkehrenden Besuchen am jeweiligen Ausstellungsort in der Erinnerung des Besuchers nachhallt. 

(9) Wobei zu sagen ist, dass bei Reto Boller die Farbabstrahlung in den Raum eine indirekte ist im Gegensatz zum Einsatz des farbigen Lichts bei Dan Flavin.