zur Ausstellung
bereit zu tragen
Deborah Keller
Saaltext Kunsthalle Arbon
Die Erfahrung der Leere kann wohltuend sein. Obwohl wir alle in unserem aktuellen Alltag durch Einschränkung von Freizeitaktivitäten und Mobilität wohl mehr Leere erdulden als üblich, uns im Vakuum des Wartens befinden, hat die Leere, mit der uns Reto Boller konfrontiert, nichts Unbehagliches. Im Gegenteil. Als Andeutung eines strahlend weissen Raums betont sie die imposante Weite unserer Halle. Die Leere wird zum Gefäss für die Spiegelung der Deckenkonstruktion und des Oberlichts und bietet sich an als Möglichkeitsraum: Für wen oder was ist diese blendend weisse Zone, die wir als Publikum nicht betreten dürfen, gemacht? Was könnte hier stattfinden? Welchen Auftritt würde sie gebührenden rahmen?
Es ist nicht das erste Mal, dass Reto Boller (*1966, Zürich) mit grossflächigem Einsatz von Klebefolie – so wie hier – eine gegebene Räumlichkeit verändert. Vor ziemlich genau 20 Jahren war diese Geste der logische Schritt eines Künstlers, der seit seinem Kunststudium Mitte der 1990er-Jahre die Grenzen der Malerei strapazierte, ihre Erweiterung mit Mitteln wie Silikon und Leimfarbe suchte und die Unterscheidung zwischen Bildträger, Bild und Objekt hinterfragte. Die Ausweitung in den Raum war unabdingbar. So nahm er in Galerie- und Museumsräumen mit Klebefolie von meist kräftiger Farbe eigenwillige räumliche Aussparungen vor. Parallel dazu wurde seine Kunst zunehmend skulpturaler, installativer und annähernd figürlich. Die Raumaneignungen wurden ab 2010 schliesslich selten, in der Auseinandersetzung mit der Kunsthalle Arbon bot sich für Boller nun die Möglichkeit, diesen Ansatz wieder aufzugreifen.
Zwei eigenwillig dimensionierte Wände zieht er dafür längs in die Halle ein. Wie zufällig an die Westwand und die gegenüberliegende Säulenreihe angelehnt, verändern sie die Lichtführung im Raum und erzeugen eine Art gross dimensionierte Schaukastensituation. Darin begegnet Boller der Patina unseres alten Industriebaus mit ausgedehntem Weiss – der Farbe der «Projektionsfläche» und der Reinheit, die im räumlichen Kontext oft mit klinischer oder musealer Anmutung konnotiert ist. Beide Zuschreibungen greifen hier allerdings nicht. Nicht nur ist die charakteristische Hallenarchitektur als Spiegelung präsent, auch ihr abgenutzter Boden wird unter der satt sitzenden, dünnen Haut der Klebefolie deutlich nachgezeichnet, erinnert an eine Schneedecke oder scheint Wasserlachen zu bergen. Die Geschichte des Raumes dringt durch die weisse Schicht zu den Betrachtenden vor und unterwandert damit sehr deutlich den Topos des «White Cube», der in Museen und Galerien der Kunst möglichst neutrale Ausstellungsbedingungen bieten soll. Kein Raum aber ist neutral, Entstehung, Erinnerung und Zuschreibung lauern in jedem Winkel.
Vielleicht also spricht der rätselhafte Ausstellungstitel die «Bereitschaft» an, Geschichte und damit Bedeutung «zu tragen». Das klingt nach einer gewissen ehrwürdigen Bürde. Erst, wenn man die Wortfolge zurück ins Französische überträgt, von wo der Künstler sie entliehen hat, kommt etwas von der Strahlkraft wieder ins Spiel, die den ersten Eindruck der Installation prägt: «bereit zu tragen» ist die behäbige deutsche Übersetzung von «prêt-à-porter», einer Wendung aus der Modeszene und damit aus einer Welt, die mit Glamour und Schönheit, aber auch mit der Diskrepanz zwischen Schein und Sein verbunden ist.
Auch die Ausstellung von Reto Boller ist verschmitzt trügerisch, die Kunsthalle nicht ganz so leer, wie sie zunächst scheint. Wenn wir uns in die Zone hinter der Säulenreihe begeben, die wegen der davor eingezogenen Wand nur schwach beleuchtet ist, treffen wir auf eine überraschende Ansammlung von Objekten: Kunstwerke sind hier ganz am Ende des schlauchartigen Raumes gelagert. Es ist eine Situation, wie man sie in einem Künstleratelier, im Atelier von Boller, antreffen könnte: Manches scheint probehalber installiert, zum Beispiel ganz hinten an der Stirnwand eine mit roter Klebefolie und Motorradhelm skizzierte Gestalt, ebenso eine «weisse Fahne» – ein Gruss des Arboner Friedensapostels Max Daetwyler? Anderes wirkt provisorisch deponiert, beinahe achtlos an die Wand gelehnt, auf Holzpflöcke gestützt, unscheinbar am nächstbesten Nagel aufgehängt. Einiges scheint unfertig, skizzenhaft, in einem Übergangsstadium.
Der Künstler versammelt in dieser «versteckten» Installation aktuelle Werke aus einem Zeitraum von 2015 bis heute, die inhaltlich und formal vielschichtig verzahnt sind. Malerische Experimente stehen neben Annäherungen an skulpturale Figürlichkeit. Oft prekär und dabei stets uneindeutig genug, evozieren sie kollektive Erinnerungen und mediale Bilder von versehrten Körpern, Gewalt, manchmal auch von Lust oder körperlicher Ertüchtigung. Ihre assoziative, rätselhafte Selbstverständlichkeit reflektiert fragmentarisch Empfindungszustände, die sich, vielfach beklemmend, auf die Betrachtenden übertragen. In anderen Werken wiederum schwingt Witz oder gar die Bildsprache von Comics mit. Mehrere maskenhafte Gebilde rühren wieder an die Frage nach Schein und Sein, nach Zeigen und Verbergen, und führen uns gedanklich zurück zur weissen Plattform nebenan. Warten die hier gelagerten Objekte auf ihren Auftritt da vorne? Wer bestimmt, was ans Licht darf und was im Verborgenen bleibt?
Diese zentrale Frage stellt sich im musealen Kontext ebenso wie im gesellschaftlichen, im politischen und im medialen. Reto Bollers schlichte, formale Geste der räumlichen Zweiteilung, die weisse Folie als erweiterte Malerei im Dreidimensionalen und der exemplarische «Lagerraum» schliessen sich so zu einer komplexen Gesamtinstallation, in der Alltägliches Widerhall findet.
Es ist nicht das erste Mal, dass Reto Boller (*1966, Zürich) mit grossflächigem Einsatz von Klebefolie – so wie hier – eine gegebene Räumlichkeit verändert. Vor ziemlich genau 20 Jahren war diese Geste der logische Schritt eines Künstlers, der seit seinem Kunststudium Mitte der 1990er-Jahre die Grenzen der Malerei strapazierte, ihre Erweiterung mit Mitteln wie Silikon und Leimfarbe suchte und die Unterscheidung zwischen Bildträger, Bild und Objekt hinterfragte. Die Ausweitung in den Raum war unabdingbar. So nahm er in Galerie- und Museumsräumen mit Klebefolie von meist kräftiger Farbe eigenwillige räumliche Aussparungen vor. Parallel dazu wurde seine Kunst zunehmend skulpturaler, installativer und annähernd figürlich. Die Raumaneignungen wurden ab 2010 schliesslich selten, in der Auseinandersetzung mit der Kunsthalle Arbon bot sich für Boller nun die Möglichkeit, diesen Ansatz wieder aufzugreifen.
Zwei eigenwillig dimensionierte Wände zieht er dafür längs in die Halle ein. Wie zufällig an die Westwand und die gegenüberliegende Säulenreihe angelehnt, verändern sie die Lichtführung im Raum und erzeugen eine Art gross dimensionierte Schaukastensituation. Darin begegnet Boller der Patina unseres alten Industriebaus mit ausgedehntem Weiss – der Farbe der «Projektionsfläche» und der Reinheit, die im räumlichen Kontext oft mit klinischer oder musealer Anmutung konnotiert ist. Beide Zuschreibungen greifen hier allerdings nicht. Nicht nur ist die charakteristische Hallenarchitektur als Spiegelung präsent, auch ihr abgenutzter Boden wird unter der satt sitzenden, dünnen Haut der Klebefolie deutlich nachgezeichnet, erinnert an eine Schneedecke oder scheint Wasserlachen zu bergen. Die Geschichte des Raumes dringt durch die weisse Schicht zu den Betrachtenden vor und unterwandert damit sehr deutlich den Topos des «White Cube», der in Museen und Galerien der Kunst möglichst neutrale Ausstellungsbedingungen bieten soll. Kein Raum aber ist neutral, Entstehung, Erinnerung und Zuschreibung lauern in jedem Winkel.
Vielleicht also spricht der rätselhafte Ausstellungstitel die «Bereitschaft» an, Geschichte und damit Bedeutung «zu tragen». Das klingt nach einer gewissen ehrwürdigen Bürde. Erst, wenn man die Wortfolge zurück ins Französische überträgt, von wo der Künstler sie entliehen hat, kommt etwas von der Strahlkraft wieder ins Spiel, die den ersten Eindruck der Installation prägt: «bereit zu tragen» ist die behäbige deutsche Übersetzung von «prêt-à-porter», einer Wendung aus der Modeszene und damit aus einer Welt, die mit Glamour und Schönheit, aber auch mit der Diskrepanz zwischen Schein und Sein verbunden ist.
Auch die Ausstellung von Reto Boller ist verschmitzt trügerisch, die Kunsthalle nicht ganz so leer, wie sie zunächst scheint. Wenn wir uns in die Zone hinter der Säulenreihe begeben, die wegen der davor eingezogenen Wand nur schwach beleuchtet ist, treffen wir auf eine überraschende Ansammlung von Objekten: Kunstwerke sind hier ganz am Ende des schlauchartigen Raumes gelagert. Es ist eine Situation, wie man sie in einem Künstleratelier, im Atelier von Boller, antreffen könnte: Manches scheint probehalber installiert, zum Beispiel ganz hinten an der Stirnwand eine mit roter Klebefolie und Motorradhelm skizzierte Gestalt, ebenso eine «weisse Fahne» – ein Gruss des Arboner Friedensapostels Max Daetwyler? Anderes wirkt provisorisch deponiert, beinahe achtlos an die Wand gelehnt, auf Holzpflöcke gestützt, unscheinbar am nächstbesten Nagel aufgehängt. Einiges scheint unfertig, skizzenhaft, in einem Übergangsstadium.
Der Künstler versammelt in dieser «versteckten» Installation aktuelle Werke aus einem Zeitraum von 2015 bis heute, die inhaltlich und formal vielschichtig verzahnt sind. Malerische Experimente stehen neben Annäherungen an skulpturale Figürlichkeit. Oft prekär und dabei stets uneindeutig genug, evozieren sie kollektive Erinnerungen und mediale Bilder von versehrten Körpern, Gewalt, manchmal auch von Lust oder körperlicher Ertüchtigung. Ihre assoziative, rätselhafte Selbstverständlichkeit reflektiert fragmentarisch Empfindungszustände, die sich, vielfach beklemmend, auf die Betrachtenden übertragen. In anderen Werken wiederum schwingt Witz oder gar die Bildsprache von Comics mit. Mehrere maskenhafte Gebilde rühren wieder an die Frage nach Schein und Sein, nach Zeigen und Verbergen, und führen uns gedanklich zurück zur weissen Plattform nebenan. Warten die hier gelagerten Objekte auf ihren Auftritt da vorne? Wer bestimmt, was ans Licht darf und was im Verborgenen bleibt?
Diese zentrale Frage stellt sich im musealen Kontext ebenso wie im gesellschaftlichen, im politischen und im medialen. Reto Bollers schlichte, formale Geste der räumlichen Zweiteilung, die weisse Folie als erweiterte Malerei im Dreidimensionalen und der exemplarische «Lagerraum» schliessen sich so zu einer komplexen Gesamtinstallation, in der Alltägliches Widerhall findet.